laut.de-Biographie
The Bug
Eigentlich ist Kevin Martin ein Brite, wie er im Buche steht. Als Sohn eines irischen Vaters und einer schottischen Mutter in Wales geboren, verbringt er die meiste Zeit seines Lebens in England. "Ich fühle mich allerdings keiner dieser Nationen, Milieus oder kulturellen Codes zugehörig", bemerkt er. "In dieser Hinsicht bin ich ohne Wurzeln."
Zu Hause bei Muttern sieht sich Kevin dem Einfluss Led Zeppelins, Deep Purples oder Santanas ausgesetzt. Auf der Suche nach einem Gegenmittel zu den stundenlangen Gitarrensoli dieser Prog-Rock-Metal-Hölle kommt eins gerade recht: "Mein erstes Album war von The Damned, richtig umgehauen haben mich dann die Singles von Discharge."
Auch in der Kleinstadt, in der Kevin aufwächst, ist der Weckruf des Punk nicht zu überhören. Als wahrhaft prägend erweist sich die Post-Punk-Ära der frühen 80er: Public Image Ltd, Cabaret Voltaire, Mark Stewart and The Maffia und The Birthday Party hinterlassen ihre Spuren.
Bereits als Teenager spielt Kevin Saxophon und beschäftigt sich mit den Werken John Coltranes, Miles Davis', Pharoah Sanders', Albert Aylers und Peter Brötzmanns. Dazu gesellt sich eine Leidenschaft für zeitgenössische klassische Musik, für obskure Filmsoundtracks und für Hip Hop.
Auch der Macht von Reggae und Ragga-Mash-Ups ist nur schwer zu entkommen, lebt man in multikulturell geprägten Stadtteilen: Besonders nach dem Umzug nach London erlebt er die beeindruckende Intensität von Soundsystems, darunter The Disciples, die Iration Steppers oder Jah Shaka - wie eine Offenbarung. Es entwickelt sich eine langjährige Liebe zu Dub und Roots: "Prince Far I, Lee Perry, The Scientist und Adrian Sherwood und seine Leute von On-U Sound waren Helden für mich."
Bevor er sich allerdings tatsächlich dem Dancehall zuwendet, bringt Kevin Martin unter verschiedenen Namen die unterschiedlichsten Projekte an den Start und verbindet dabei Jazz mit Industrial, Dub und Punk-Rock. 1987 gründet er gemeinsam mit Shaun Rogan das Freejazz-Noise-Ensemble God. Anfangs noch zu viert, stehen später oft zehn und mehr Mitglieder auf der Bühne. Shaun verlässt God 1990, Justin Broadrick übernimmt die Gitarre. God arbeiteten unter anderem mit Bill Laswell und John Zorn zusammen. 1995, nach der Veröffentlichung mehrerer Alben, trennt sich die Formation.
Kevin widmet sich Ice, in deren Reihen sich auch Dave Cochrane einfindet. Ice trumpfen unter anderem mit Features von El-P, Anti Pop Consortium, Blixa Bargeld und DJ Vadim auf. Unter Kevins zahllosen Projekten erlangt Techno Animal (Kevin Martin mit Justin Broadrick) den größten Bekanntheitsgrad. Kevin gründet das Label Pathologigal Records und ist unter dem Alias Pathological Puppy als Grafikdesigner tätig. Seit den frühen 90ern produziert und remixt er, erforscht schräge Töne und interessiert sich dabei besonders für den in jeder Musikrichtung verborgenen Hardcore-Anteil.
Um 1996 beginnt sein Soloprojekt The Bug, Gestalt anzunehmen. Skiz Fernando, unter dem Alias Spectre Kopf des New Yorker Illbient-Labels WordSound, gibt den Anstoß: Kevin möge es doch einmal mit einem unkonventionellen Dub-Album versuchen. Mit Unterstützung von Dave Cochrane wagt er sich an eine Audio-Interpretation von Francis Ford Coppolas "The Conversation" (zu deutsch: "Der Dialog" von 1973).
Das Film-Konzept-Album "Tapping The Conversation", an dessen Verwirklichung auch DJ Vadim beteiligt ist, erscheint 1997 bei WordSound. Extrem dekonstruierte Dub- und Hip Hop-Beats im Verbund mit Electro- und Illbient-Anteilen verleiten die Presse zu Wortschöpfungen wie "Visionary Mutant Alien Dancehall".
1998 folgt bei Fat Cat die EP "Low Rider". The Bug setzt sich zum Ziel, die Tür zu einem Raum jenseits festgefahrener Definitionen aufzustoßen. Stimulation für Körper und Geist ist Programm: Kevin Martin sieht sich zum einen Protest-Songs verpflichtet, wie sie im Reggae eine lange Tradition haben. Zum anderen soll seine Musik eine physisch erfahrbare Macht darstellen. "Ich will die Hörer überschütten, überwältigen, überrennen."
Gemeinsam mit dem Rootsman gründet er das 7"-Label Razor X, das unter anderem seine beiden Singles "Killer" und "Seismic" verlegt. "Killer" stellt das unbestrittene Herzstück seines 2003 erscheinenden zweiten Albums. "'Pressure' bildet das Fundament, auf dem meine musikalische Identität fußt", so Kevin Martin im Interview. "Ich habe unzählige Kollaborationen gemacht. The Bug - das bin ich."
Was nicht bedeuten soll, dass man es mit The Bug mit einer Ein-Mann-Show zu tun hat. Daddy Freddy, Singing Bird, Toastie Taylor, Tikiman, Wayne Lonesome und Roger Robinson sind nur einige der beteiligten Gastvokalisten. Live ist The Bug meist mit MC Ras B und Warrior Queen unterwegs. "The Bug ist für alle Beteiligten ein Ventil, um ihre Unzufriedenheit mit sozialen, ökonomischen und politischen Umständen zu kanalisieren." Kevin Martin mischt Killerbeats mit apokalyptischen Dubs und Conscious-Lyrics.
Das Spektrum der transportierten Gefühle und Stimmungen erreicht eine Breite, die auch prominente Fans anzieht: Aphex Twin verfällt The Bugs rauem, dreckigen Mash-Up aus Ragga, Dancehall und Techno, signt ihn bei seinem Label und fertigt persönlich zwei Remixe an. In die Reihe der Labels, bei denen The Bug veröffentlicht, reiht sich nach WordSound, Fat Cat, Tigerbeat 6, Klein und Razor X nun auch Rephlex ein - nicht die schlechteste Adresse. Rephlex trägt Sorge für "Pressure" (2003) sowie eine Razor X-Label-Compilation, die Anfang 2006 unter dem Titel "Killing Sound" erscheint.
Zeit geht ins Land, die Flut an Projekten reißt nicht ab. Mit Ladybug ruft Kevin Martin ein weiteres Label ins Leben, das sich vornehmlich den Veröffentlichungen weiblicher MCs widmen soll. Gemeinsam mit Dubstep-Producer Loefah veranstaltet er in London unter dem Titel BASH ab 2006 eine monatliche Clubnacht.
Der Kontakt zu Roll Deeps Flowdan und die expandierende Zusammenarbeit mit Warrior Queen tragen 2008 greifbare Früchte: "London Zoo" erscheint diesmal unter dem Dach von Ninja Tune und vereint Grime, Dubstep, Electronica und Hip Hop in finsteren Soundgewittern, über die zahlreiche Rap-, Reggae- und Dancehall-Vokalisten ihre düsteren Visionen ablassen. Eine Strandparty hört sich anders an. Mit "London Zoo" kreiert Kevin Martin eher den Soundtrack der bevorstehenden Apokalypse.
Acht Jahre ziehen ins Land, ehe "Angels & Devils" "Pressure" und "London Zoo" zu einer Dreieinigkeit komplettiert. Inzwischen hat Kevin Martin seinen Lebensmittelpunkt nach Berlin verlegt und sich die Zeit unter anderem mit seinem Seitenprojekt King Midas Sound vertrieben. The Bug lebt und atmet allerdings noch immer, daran lässt "Angels & Devils" 2014 keinen Zweifel.
Wieder steigen bewährte Mitstreiter, darunter Justin Broadrick, Warrior Queen und Flowdan, mit ins Boot. Auch die Punkrap-Combo Death Grips, die kurz zuvor ihre Auflösung bekannt gegeben hat, hinterlässt auf dem Album noch schnell ein Lebenszeichen.
Weil sich Apokalypsen miteinander noch ein bisschen wirkungsvoller lostreten lassen, macht The Bug 2017 mit den US-amerikanischen Drone-Doom-Pionieren Earth gemeinsame Sache. Die Zusammenarbeit resultiert in dem Album "Concrete Desert". Drei Jahre später setzt Kevin Martin erneut auf Kooperation, wenn auch in eine ganz andere Richtung: Mit Jazz-Sängerin Dis Fig bringt er "In Blue" an den Start.
"Fire" macht 2021 seinem Titel erneut alle Ehre. Am Mikrofon kämpft sich auch diesmal wieder ein ganzes Rudel MCs durch The Bugs dystopische Soundwelten, darunter zum Beispiel Moor Mother sowie erneut Flowdan und Daddy Freddy. Das krasse Gegenteil dazu bildet das 2024er-Album: Auf "Machine" hat selbige komplett übernommen. Rein instrumental gehalten, sprechen die Beats hier für sich.
Wenig geändert hat sich am Sound: Ungebrochen fusioniert The Bug Dancehall, Electronica, Industrial, Grime, Hip Hop, Dubstep und Metal zu einer Legierung extremen Härtegrades, für die Kritiker noch immer vergebens um eine angemessene Bezeichnung ringen. Future Dub? Wer weiß?
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