laut.de-Kritik

Kann es verzweifeltere Songs geben?

Review von

30 Jahre nun sitzen Edward Ka-Spel und sein alter Freund Phil "The Silverman" Knight wie einst die Lady von Shallott in ihrem Turm und liefern ein künstlerisches Meisterwerk nach dem anderen ab. Unter den bisherigen 26 LPs gab es nicht den geringsten Aussetzer. Trotz dieser anscheinend nimmer versiegenden Qualitätsdichte setzen die entrückten Briten aus Amsterdam ihrem erhabenen Oeuvre mit dem ästhetisch betitelten "Seconds Late For The Brighton Line" zum Jubiläum noch einmal lässig die Krone auf.

Wesentlich dunkler und introvertierter als der Vorgänger, jedoch zum Bersten gefüllt mit ebenso abstrusen wie gegensätzlichen Details, die gleichwohl mühelos ineinander gleiten, bis der Soundteppich fertig geknüpft ist. Psychedelischer Wahnsinn als Genregrenzen-Killer? Das funktioniert wunderbar. Der Garten ist groß und Gegensätze ziehen sich bekanntlich an.

Letztere zu überwinden, fällt dem sinistren Frontman und seinem metallenen Gefährten nicht schwer. "Someday" stolziert lässig aus den Boxen, als habe Jacques Brel sich mit einer Hawaigitarre bewaffnet, um einen Bowiesong zu singen. Seltsam? Vielleicht, aber noch längst nicht alles. Mit dem betörenden Abzählreim "Russian Roulette" eröffnet Ka-Spel pluckernd den schaurig-bunten Reigen. Am Ende dieses Liedes vergisst man bereits wie unter Hypnose, dass der Player einen Aus-Knopf besitzt.

Die ihnen höchst geläufige Schwermut osteuropäischer Klassikkomponisten polieren sie in "Endless Time" genüsslich mit schleppend heransägenden Industrial-Klingen. "Leap Of Faith" verbindet ein dezent trauerndes Schubert-Piano mit einer Art Grammophon-Throbbing Gristle. Ka-Spel insistiert dazu to clean the Floor for your contaminated Love. Kann es einen verzweifelteren Song geben?

Smart wie eh und je gibt der gebürtige Edward Francis Sharp den heruntergekommenen Paradiesvogel in all seiner gebrochenen Pracht. Wie ein Ertrinkender im Ocean mit einem kaputten CB-Funk verstreut er seine kryptischen Opiumzeilen in "God And Machines" als Lockfutter für einen wuchtig vibrierenden Noise-Tsunami. Mit der richtigen Anlage legt man damit problemlos das gesamte Eigenheim in Schutt und Asche. Merkwürdig? Eventuell, aber unwiderstehlich.

Spätestens bei "No Star Too Far" erscheint tatsächlich keine Galaxie zu weit. Eine aggressive indische Schlangentröte überfällt mit afrikanischen Rhythmen, Bratzgitarre und buddhistischen Gesängen im Gepäck ein Pink Floyd-artig angedeutetes Thema wie eine Epidemie. Heilung ausgeschlossen!

Sitzen die Pinken Punkte damit nicht verkanntet zwischen allen Stühle? Derlei Fragen existieren nicht im LPD-Paralleluniversum, weil sie sich in drei Jahrzehnten noch nicht ein einziges Mal hingesetzt haben. Kaputte Schönheit in Perfektion und vollendeter Würde; bedingt erst durch die entstellenden Zerklüftungen aus Silvermans Höllenorgel.

So bleiben sie weiterhin die Van Goghs der Musik. Mit ihren waghalsig expressionistischen Klangmalereien und den melancholisch fragilen Melodien sind die Genies ihrer Zeit leider um Äonen voraus und müssen bislang zuschauen, wie die Bader und Scharlatane das psychedelische Reich flächendeckend beackern. Ich prophezeie: In spätestens 100 Jahren wird man ihren Namen ehrfürchtig in einem Atemzuge mit Bach oder Cage im Munde führen. Sollte das bis 2111 nicht geschehen, darf man mir gern posthum ans Mausoleum pinkeln.

Trackliste

  1. 1. Russian Roulette
  2. 2. Endless Time
  3. 3. Leap Of Faith
  4. 4. Radiation Day
  5. 5. God And Machines
  6. 6. No Star Too Far
  7. 7. Someday
  8. 8. Hauptbahnhof
  9. 9. Ascension

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