laut.de-Kritik

Auferstanden aus Riots: Der wilde Libertines-Punkrock lebt.

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Hyde Park, London, Samstag, 5. Juli 2014: Als die ersten Töne des alten Libertines-Hits "Boys In The Band" erklingen, drehen 60.000 Konzertbesucher durch. Tausende drücken nach vorne zur Bühne. Riots bilden sich, die Libertines-Meute ist außer Rand und Band. Gleich zweimal brechen Carl Barât und Pete Doherty den Song ab und fordern die Konzertbesucher zur Contenance auf. Die Fans in den vordersten Reihen drohen erdrückt zu werden. Am Ende des Konzerts sind 38 Menschen verletzt.

So tragisch dies klingt: Besser als mit diesem Comeback-Gig kann man die Geschichte der Band nicht auf den Punkt bringen. The Libertines, das bedeutet: Exzess, Energie, Wahnsinn. In ihrer Musik, in ihrem Leben - auch elf Jahre nach ihrer Trennung.

Nun melden sie sich mit "Anthems For Doomed Youth" zurück, dessen Entstehung sich einmal mehr zu den zahlreichen Legenden um die Band gesellt: Aufgenommen wurde die Platte nicht etwa in einem Studio in London, sondern in Thailand (Karma Studios), wo Doherty zuvor zum gefühlt tausendsten Mal versuchte, von den Drogen loszukommen. Dass in dieser lockeren Sonne-Strand-Urlaub-Drogenentzugs-Atmosphäre ein Nachfolge-Album auf der Höhe von "Up the Bracket" oder "The Libertines" entstehen würde, durfte stark angezweifelt werden. Schließlich war der Druck enorm und die Zeit knapp.

Doch die Teufelskerle Doherty, Barât, Powell und Hassall präsentieren - ausgerechnet! - eine der stimmigsten Libertines-Platten überhaupt. "Anthems For Doomed Youth" hört sich an, als hätte die Band seit Jahren daran gebastelt. Was sie nicht haben. Und das lässt nur einen Schluss zu: Diese Truppe kann offenbar nichts erschüttern. Nicht Dohertys Drogeneskapaden, nicht ihr jahrelanger Streit, nicht Barâts unglückliche Solo-Musik. Ihr Talent, große Songs zu schreiben, ist scheinbar nicht tot zu kriegen.

Bemerkenswert auch, dass die Libertines nach all den Jahren der Funkstille zwischen Barât und Doherty und den daraus folgenden Soloprojekten nach wie vor ganz und gar nach den Libertines klingen. Es ist kein Babyshambles-Album mit Dirty Pretty Things-Einflüssen geworden oder umgekehrt. Auch wenn manche Songs natürlich mal etwas mehr in Richtung Babyshambles ("You Are My Waterloo") oder Dirty Pretty Things ("Barbarians") abdriften.

Doherty und Barât ergänzen sich aber dermaßen liebevoll, als wäre jeder einzelne Song eine Hommage an ihre wiedergefundene Freundschaft. Es geht mitten ins Herz, wenn sie in "Iceman", einer der schönsten Libertines-Balladen überhaupt und nur von einer sanften Gitarre begleitet, zweistimmig singen. Doherty und Barât brauchen einander. Die beiden Freigeister sind voneinander abhängig. Hier der verlorene Poet Pete, dessen Songs immer etwas mäandernd ausfransen, dort der coole Rock'n'Roller Carl, der auf den Punkt spielt und schlussendlich Dohertys musikalisches Chaotentum im Zaum hält.

"Anthems For Doomed Youth" ist deutlich pompöser produziert als die Vorgängeralben. Hatte man bei "Up The Bracket" das Gefühl, dass die Aufnahme aus einer wilden Jamsession entstanden ist, sind die neuen Songs cleaner abgemischt. Genau das hätte auch den Tod für den wilden Libertines-Punkrock bedeuten können. Produzent Jake Gosling beweist aber ein äußerst feines Händchen, lässt dem Libs-Stil seinen Raum und trägt damit auch zu dessen Weiterentwicklung bei.

So zirpen und heulen noch immer die manchmal etwas schrägen Gitarren durch die Songs. Bei "Barbarians" zum Beispiel, dessen Anfang überraschenderweise nach, ähm, Mando Diao klingt. Der dann aber dank der hüpfenden Gitarrenparts ganz schnell diese unbeschwerte Libertines-Lässigkeit aufnimmt. Deutlich mehr Tempo hat "Fury Of Chonburi", englischer Bier-Pub-Punkrock à la "Boys In The Band". Die Vorabsingle "Gunga Din" kommt als Hymne mit Reggae-Einflüssen und Mitsing-Refrain daher.

Bei den ruhigeren Songs tut sich insbesondere Doherty hervor, der sowohl für die Babyshambles als auch als Solokünstler schon so einige berührende Stücke geschrieben hat. So singt er beim nicht mehr ganz neuen "You Are My Waterloo" beispielsweise charmant-verträumt zu Pianoklängen: "You'll never fumigate the demons / No matter how much you smoke / So just say you love me" und "Cos you are the survivor / Of more than one life / And you're the only lover I had". Schöner kann eine Liebeserklärung nicht klingen. Angeblich soll sie an Carl gerichtet sein.

Der Album-Titel indes ist eine Referenz an das gleichnamige Gedicht "Anthems For Doomed Youth" des englischen Poeten Wilfred Owen (1893–1918). Darin verarbeitete der Dichter seine Eindrücke des Ersten Weltkriegs, in dem er als Soldat selber kämpfte und dort auch den Tod fand. Owen klagt im Gedicht die Verschwendung vieler meist sehr junger Männer an, die in der Schlacht sinnlos sterben müssen, während zu Hause der Krieg glorifiziert wird. "What passing-bells for these who die as cattle? / Only the monstrous anger of the guns / Only the stuttering rifles' rapid rattle / Can patter out their hasty orisons (prayer)", schreibt Owen.

Schlachten mussten die Libertines in ihrer Karriere so manche austragen. Und darüber reflektieren sie ausgiebig. Die ganze Platte ist gespickt mit Anspielungen und Botschaften. Zu Dohertys Drogenvergangenheit: "Don't spend your days in the haze with the iceman / It means nothing at all" ("Iceman") oder "I gotta find a vein, it's always the same" ("Gunga Din"). Zu Barâts dunklen Zeiten: "Back in London's grey scotch mist, staring up at my therapist / He says pound for pound, blow for blow / You're the most messed up motherfucker I know" ("Belly Of The Beast"). Und natürlich zu ihrer Freundschaft, wenn sie gemeinsam singen: "What happened to the joy in the hearts of the boys / Like it's part of the part of the scene / They go harder it seems, they can share a good heart / But you go, go back to your change" ("Glasgow Coma Scale Blues").

2004 fragten die Libertines in "What Became Of The Likely Lads": "Oh what became of the likely lads? / Oh what became of the dreams we had? What became of forever?" Und antworteten gleich selber: "But blood runs thicker oh / We are thick as thieves, you know". 11 Jahre später wissen wir wieder: Das stimmt mehr denn je.

Trackliste

  1. 1. Barbarians
  2. 2. Gunga Din
  3. 3. Fame And Fortune
  4. 4. Anthem For Doomed Youth
  5. 5. Heart Of The Matter
  6. 6. Belly Of The Beast
  7. 7. Iceman
  8. 8. You're My Waterloo
  9. 9. Fury Of Chonburi
  10. 10. The Milkman's Horse
  11. 11. Glasgow Coma Scale Blues
  12. 12. Dead For Love

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