laut.de-Biographie
The Mighty Mighty Bosstones
Mitte der 80er Jahre ist der Ska in Europa klinisch tot. Englische Two Tone-Bands wie The Specials oder The Selecter lösen sich auf. Das Label geht mit dem Ende des Hypes pleite, nur Stilmitbegründer Laurel Aitken schwenkt mit den Potato 5 unter Ausschluss öffentlichen Interesses die schwarz-weiße Flagge. Kurz: Alles wäre in diesen Zeiten cooler, als mit seinen Kumpels eine Ska-Band zu gründen.
Überm großen Teich seht es nicht anders aus. Sieben Teenager aus Boston verteidigen dennoch ihre Liebe zur ersten Specials-Scheibe, wollen aber gleichzeitig ihre Stromgitarren auf höchste Krawallstufe stellen. So entsteht im Gründungsjahr 1985 die wohl erste Skacore-Band, die den Weg für stilverwandte Vertreter mit Namen Mad Caddies oder Less Than Jake ebnen soll. Vor allem Sänger Dicky Barrett, der sich im Bostoner Straight Edge Hardcore Circuit herumtreibt, dürfte dank seines markanten Organs der deftige Lärminput zu verdanken sein.
Die Mighty Mighty Bosstones setzen sich zusammen aus Bassist Joe Gittleman "The Bass Fiddleman" (Ex-Gang Green), Sänger Richard Michael "Dicky" Barrett (Ex-Impact Unit, Ex-Cheap Skates), Nate Albert (Gitarre), Tim Burton (Saxophon), Time Bridewell (Posaune) und Josh Dalsimer (Schlagzeug). Die Band gönnt sich außerdem den Luxus, mit Ben Carr einen bandeigenen Vortänzer ins Lineup aufzunehmen. Ganz in der Tradition des Ska treten die Bosstones grundsätzlich in Anzg und Krawatte auf.
Nachdem man sich anfangs schlicht The Bosstones nennt, hören die Jungs eines Tages von einer gleichnamigen A Capella-Band, so dass eine Namensergänzung nötig wird. Aus den Bosstones werden die Mighty Mighty Bosstones. Da Gittleman und Albert zu dieser Zeit die High School-Prüfungen im Nacken spüren, legt die Band trotz erfolgversprechender Compilation-Teilnahme auf dem Ska-Sampler "Mash It Up" (ihr Beitrag "Cave" erscheint später auf dem Debütalbum) eine Pause ein, die sich bis 1989 hinzieht.
Die erste Scheibe "Devil's Night Out" von 1989 zählt heute zu den Klassikern der härteren Ska-Gangart. Die Band legt von Beginn an größten Wert auf Live-Shows. Zu Hochphasen spielt die Partycombo 300 Gigs im Jahr. Der enge Kontakt zur Anhängerschaft erfreut den Fan in einer Zeit, in der egozentrischen Grunge-Helden der große Erfolg beschieden ist. Jener stellt sich bei den Bosstones trotz unablässigen Tourens nicht ein.
In der Zwischenzeit verlässt Bridewell die Band, die ihre Bläsersektion mit Dennis Brockenborough an der Posaune und Kevin Linear am Sax auffettet.
In der Tradition der Clash übt sich die Band in politischem Aktivismus, stilübergreifend in der Ska- und Hardcore-Szene. Als erste US-Ska-Band unterzeichnen sie 1993 beim Majorlabel Mercury, nachdem das Minilabel Taang! die große Nachfrage nach Platten der Bostoner nicht mehr befriedigen kann.
Dort erscheint 1991 noch die EP "Where'd You Go" mit drei Coverversionen. Die Mighty Mightys bügeln Aerosmiths "Sweet Emotion", Van Halens "Ain't Talkin' 'Bout Love" und Metallicas "Enter Sandman" auf Ska. Während der folgenden ersten Tour durch die USA verlässt Drummer Dalsimer die Band, er wird durch Joe Sirois ersetzt.
Im Jahr 1992 markiert das Zweitwerk "More Noise And Other Disturbances" den letzten Output für Taang!. Dieses Album enthält schon die Live-Klassiker "Dr. D", "Cowboy Coffee" und "I'll Drink To That", das in verschiedenen Versionen noch öfter auf anderen Platten auftauchen soll. Außerdem erscheint hier das erste Mal der Köter mit Iro und Teufelshörnchen. Er soll neben dem tanzenden Teufel im Anzug zur Trademark der Band werden.
Die EP "Ska-Core, The Devil And More" mit drei Livetracks ist der erste Output auf Mercury. Des weiteren zollen sie hier ihren Helden Respekt. Sie covern "Lights Out" von den Angry Samoans, Minor Threats "Think Again", SS Decontrols "Police Beat" und "Simmer Down" von Bob Marley.
Ihr folgt nur zwei Monate später im Frühjahr 1993 der Longplayer "Don't Know How To Party" mit einem weiteren Klassiker, "Someday I Suppose". Außerdem covern sie hier Stiff Little Fingers "Tin Soldier"; zu "Issachar" trägt Bad Brains-Basser Daryl Jennifer seine Vocals bei. Im gleichen Jahr steuern sie für einen Kiss Tribute-Sampler die Nummer "Detroit Rock City" bei. Zum Jahresende dürfen sie für Aerosmith deren Bostoner Silvestershow eröffnen.
Nur ein Jahr später legen sie mit "Question The Answers" das erste Album vor, das zu den Essentials des Bandkatalogs gehört. Hier reiht sich Hit an Hit. Zurückgelehnter, entspannter Ska trifft auf aggressiven Punk. 1994 ist auch das Jahr des ersten Hometown Throwdowns. Nachdem die Bosstones fast drei Jahre lang durchgängig on the road sind, beschließen sie, im Middle East in Cambridge, Massachussetts außerhalb von Boston ein besonderes Event zu schaffen.
Vier Abende lang spielen sie zusammen mit befreundten Bands und feiern mit ihren Fans. Für den letzten Abend sind aus Versehen viel zu viele Tickets verkauft worden, und so spielt die Band am nächsten Tag ein Matinee. Auch in Zukunft sollen es immer fünf Tage sein. Findet der erste Throwdown noch im Sommer statt, legen die Bosstones zukünftige Veranstaltungen in die Weihnachtszeit. Wenn alle sowieso zu Hause sind.
Der steigende Bekanntheitsgrad der Band führt die Musiker bis nach Hollywood. In der 1995er College-Komödie "Clueless" performen sie "Where'd You Go?" und "Someday I Suppose". Im selben Jahr spielen die Bosstones das Lollapalooza-Festival. Die Live-Qualitäten scheinen sich herum zu sprechen, 1996 tourt die Gruppe mit der Warped Tour. 1997 riecht die Band lang verdienten kommerziellen Erfolg, als Bands wie No Doubt durchstarten und den Mainstream für Ska-Rockscheiben öffnen.
Doch trotz der Hitsingle "The Impression That I Get" vom Album "Let's Face It" (das in Amerika immerhin mit Platin ausgezeichnet wird) bleibt ihnen der große Durchbruch verwehrt. In den USA werden die Bosstones herumgereicht, von Saturday Night Live bis zum Elmopalooza in der Sesamstraße.
Mit "Live From The Middle East" erscheint 1998 eine Livescheibe, die bei einem der weihnächtlichen Hometown Throwdowns in Cambridge entsteht. Die Scheibe konserviert die unglaublichen Livequalitäten der Band für die Nachwelt. Derweil formiert sich ihre Plattenfirma neu. Universal schluckt Mercury und gliedert das Unterlabel in Island Def Jam ein. Für einen Clash Tribute-Sampler lassen sich die Bosstones auch noch breitschlagen, hier spielen sie "Rudie Can't Fail".
In der Folgezeit verlässt Linear die Band, um eine Solokarriere zu starten. Seine Rotzkanne übernimmt Roman Fleysher. Auch Nate Albert hängt seine Axt an den Haken, um an der Brown University Politikwissenschaft zu studieren. Seinen Platz nimmt Lawrence Katz ein.
Bei Island Def Jam kommt 2000 "Pay Attention" heraus, das in der Gunst von Fans und Kritikern nicht mehr ganz mit dem alten Output mithalten kann. Offensichtlich verkauft es sich auch nicht gut genug, denn Island Def Jam lässt die Bosstones zum Indie Side One Dummy ziehen.
Auch Brockenborough zieht von dannen, um sich seiner Band Chubby zu widmen. Ersatz finden sie in Chris Rhodes (Ex-Spring Heeled Jack). Das neue Label bringt 2002 "A Jackknife To A Swan" auf den Markt, dem es ähnlich ergeht wie dem Vorgänger. Die Band hält bis Ende 2003 durch, doch im Dezember verkünden sie eine unbestimmte Auszeit. Carr ist mittlerweile Vater und die Bosstones haben fast zwölf Jahre ununterbrochen getourt.
Dicky Barrett arbeitet seitdem als Ansager in der Jimmy Kimmel Show auf ABC, von 2005 bis 2006 moderiert er die Mighty Morning Show eines Radiosenders in Los Angeles. Auch als Gastsänger ist er bei verschiedenen Punkbands tätig. Joe Gittleman hat schon 2002 sein Seitenprojekt Avoid One Thing gegründet, mit dem er ein selbstbetiteltes Album (2002) und "Chopstick Bridge" (2004) veröffentlicht, bevor er 2005 die Band auflöst.
Des weiteren leiht er als Backgroundsänger den Street Dogs seine Stimme. Auch als Produzent ist er tätig, unter anderem für The Briggs, Flogging Molly, Big D And The Kids Table und Chuck Ragan. Side One Dummy engagiert ihn außerdem als Hausproduzenten.
Ex-Mitglied Nate Albert kann wohl doch nicht so ganz ohne Band und gründet neben dem Studium die Gruppe The Kickovers, die allerdings nur bis 2003 bestehen. Joe Sirois klöppelt derweil bei den Street Dogs.
Im Großen und Ganzen bleibt es um die Bosstones ruhig, bis sie im Oktober 2007 auf einer neuen Homepage ihren zehnten Hometown Throwdown ankündigen. Vom 26. bis 30. Dezember geht es in Cambridge im Middle East zur Sache. Passend dazu erscheint im gleichen Monat bei Big Rig die B-Seiten-Sammlung "Medium Rare". Auch live sind die Ska-Core-Könige wieder vermehrt aktiv.
Sieben Jahre nach dem vorerst letzten Studiostreich schlagen die Bosstones 2009 mit "Pin Points And Gin Joints" mächtig auf. Beim Hören der Platte stellt sich schnell das herzerwärmende Gefühl von früher ein. Die Band um Sänger Dicky Barrett kann es noch: Hymnenhafte Punksongs treffen auf vortreffliche Bläsereinsätze.
Nur zwei Jahre später folgt "The Magic Of Youth", das sich erneut als Volltreffer erweist. Perfekt produziert von Ted Hutt (Dropkick Murphys, Gaslight Anthem) reiht sich Hit an Hit. Für ein Spätwerk klingt die Bostoner Bulldogge unglaublich hungrig.
Liegt es am langen Anlauf oder dem fortgeschrittenen Alter der Kernbesetzung aus Sänger Barrett, Bassist Joe Gittleman, Tenorsaxophonist Tim "Johnny Vegas" Burton und "Dancer" Ben Carr? Der Nachfolger "While We’re At It" kann die Qualität der beiden Vorgänger-Werke nicht halten. Das 10. Studioalbum präsentiert zwar die üblichen Zutaten, es fehlt aber etwas der nötige Biss und die mitreißende Energie.
Zum Glück findet die Band mit dem 2021-Werk "When God Was Great" wieder zurück in die Spur. Die durch die Corona-Pandemie aufgezwungene Livepause nutzen The Mighty Mighty Bosstones bestens. Was die zehnköpfige Kapelle in tristen Zeiten aus dem Hut zaubert, hat immer noch Charme, macht Spaß und geht ins Tanzbein.
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