laut.de-Kritik
So lange so viel Enthusiasmus im Spiel ist: Immer weitermachen, immer weiter!
Review von Sven Kabelitz"A big hello to London, England and Hyde Park, anybody here, wo was here in 1969?" Zumindest Mick Jagger, Keith Richards, Charlie Watts und der im weiteren Verlauf zu ihnen stoßende verlorene Sohn Mick Taylor dürfen die Frage des Frontmanns mit einem Ja beantworten. Nesthäkchen Ronnie Wood erlebte damals gerade seine letzten Tage als Bassist der Jeff Beck Group. Im Publikum erheben einige angegraute Damen und Herren als Antwort ihre Stimme. Anstatt, wie damals, umsonst reinzukommen, mussten sie diesmal gut 200 Pfund hinblättern. The Times They Are A-Changin'.
"Sweet Summer Sun – Hyde Park Live" beginnt wie ein Werbefilm für London, bis nach wenigen Minuten die Stones die Bühne betreten. Bei ihrem Comeback in den Lungs Of London zeigen sie sich, bis auf eine Ausnahme, in beeindruckender Form.
Ein drahtiger Jagger gibt die von ihm perfektionierte Frontsau. Der sympathische Ron Wood, halb Spitzbub, halb Spike aus "Notting Hill", platzt fast vor Energie. Charlie Watts macht, wie all die Jahre zuvor, eben das Nötigste und schenkt dem Zuschauer sogar hier und da ein Lächeln. Nur um Richards und sein neu erlangtes Wohlstandbäuchlein muss man sich zu Beginn des Auftritts wirklich Sorgen machen.
Er besteigt die Bühne zwar mit breitem, freudigem Lächeln, aber gerade im ersten Viertel stellt der 69-Jährige nur noch einen Schatten seines früheren Selbsts dar. Nimmt man die Sichtschutzbrille eines Fans ab, fallen sofort die verzögerten Gitarrenanschläge und unbeholfenen Bewegungen ins Auge. Zu diesem Zeitpunkt versprüht selbst Watts mehr Lebenskraft als Richards. Das Ende von "Ruby Tuesday" zeigt einen zusammengesunkenen alten Mann, mehr Heesters als Richards, den im nächsten Moment die Präsenz eines kraftstrotzenden Jaggers zu erdrücken droht.
Doch vielleicht begann die Show um 17.25 Uhr einfach nur zu viel früh für ihn. Sobald er in "You Got The Silver" und "Happy" das Mikro übernimmt, aber allerspätestens mit der einsetzenden Dunkelheit, kommt der Gitarrist und Vater von Captain Jack Sparrow mehr und mehr in Fahrt. Plötzlich sagt ein kurzer Blick in die Kamera mehr, als jedes pfauenhafte Gepose Jaggers. Am Ende steht in "(I Can't Get No) Satisfaction" fast wieder der alte Richards auf der Bühne.
Verglichen mit der Setlist des 2008 erschienenen "Shine A Light", könnte "Sweet Summer Sun – Hyde Park Live" kaum langweiliger ausfallen. Bis auf die beiden Richards-Stücke und das neue "Doom And Gloom" gibt es ausschließlich die üblichen Verdächtigen um die Ohren. Trotzdem tragen die Stones "Start Me Up", "Brown Sugar" oder "Sympathy For The Devil" mit einem solchen Enthusiasmus vor, als stammten sie vom neusten Longplayer. Mit "You Can't Always Get What You Want" treiben sie auch 2013 noch Tränen des Entzückens in die Augen junger Frauen.
Auf gigantischen Leinwänden vertreten blauschwarze Schmetterlinge der digitalen Art ihre weißen Kollegen aus dem Jahr 1969. Manch ein Jackett, das Jagger aufträgt, verstärkt den Wunsch, das Bild der BluRay wäre bitte nicht ganz so scharf. Keyboarder und Musical-Director Chuck Leavell glänzt in "Honky Tonk Women", während Darryl Jones im gut durchbluteten "Miss You" genug Platz für ein packendes Bass-Solo eingeräumt bekommt.
Ein wenig seltsam mutet die Entscheidung an, drei Tracks aus dem Set zu schneiden und als Bonus-Material anzuhängen. Bei einem genauen Blick auf das Trio fällt aber auf, dass diese wohl einem besseren Spannungsbogen des Films zum Opfer fielen.
Nachdem Bill Wyman aus seiner Sicht beim Auftritt in der Londoner O2-Arena 2012 zu wenig Einsatzzeit hatte, blieb er diesmal sauertöpfig zu Hause sitzen. Dafür kam ein weiteres Mal Mick Taylor, bis heute für viele der beste Techniker, der je bei den Stones gespielt hat, für zwei Stücke zurück.
In "Midnight Rambler" stellt er sein Können mit Nachdruck unter Beweis. Im Vorbeigehen liefert er sich ein Blues-Duell mit Jagger an der Mundharmonika und spielt mal eben den Rest der Band an die Wand. In der Mitte des Sets angesiedelt, bietet der energiegeladene Song mit seinem ausuferndem Solo das perfekte Showfinale. Nach ihm wirkt selbst "Gimme Shelter", bis heute einer der besten Stones-Songs, hüftsteif.
"Immer weitermachen, immer weiter!", brach es nach der im letzten Moment gewonnenen Meisterschaft 2001 aus Oliver Kahn. Dabei hat der ehemalige Nationaltorwart mittlerweile längst aufgehört und sich in den Ruhestand begeben. Die Rolling Stones waren vor und nach ihm da. Sie machen einfach immer weiter. Sie können gar nicht anders. Bis zum bitteren Ende. Bis zu ihrem letzten Schweißtropfen. Wenn ihnen das so kraftvoll wie auf "Sweet Summer Sun – Hyde Park Live" gelingt, kann dies noch gerne eine ganze Weile fortdauern.
3 Kommentare mit 2 Antworten
Dieser Kommentar wurde vor 10 Jahren durch den Autor entfernt.
würdiger text für eine würdige pionierlegende
Der beste Techniker war Brian Jones. Und Bill Wyman gibt mit seinem saftigen Bassspiel den Stones neben Watts den eigenen Stempel.
gab!
Wyman konnte ich irgendwie, ebenso wie sein Bassspiel, noch nie leiden. Zudem muss bei ihm immer gleich an die Dumpfnulpe Mandy Smith denken. Jones stellt da eine ganz andere Klasse dar und wird oft, nur weil er nicht offiziell dazu gehört, maßlos unterschätzt.