laut.de-Kritik
Düstere Reise durch Abels seelische Marter.
Review von Johannes JimenoEs kommt einem Wunder gleich, dass wir das noch einmal erleben dürfen. In Zeiten loser Singles, Spotify-Playlists und schnell vergänglicher TikTok-Hits beschenkt uns ein kanadischer R'n'B-Star mit einem Relikt aus der Vergangenheit: "After Hours" ist ein Konzeptalbum! Sogar eines, das erstaunlich gut funktioniert. Features? Fehlanzeige. The Weeknd braucht für seine Vision nur sich selbst. Das ist der Qualität absolut nicht abträglich. Wenn man sich die Videos zu den drei Vorabsingles angeschaut hat, ahnte man bereits, dass er etwas Größeres im Schilde führt, spielen sie doch alle im selben Szenario.
Die Ausgangssituation: Abel verließ seine Heimatstadt Toronto gen Los Angeles, um als Musiker den Durchbruch zu schaffen. Nachdem er als "Starboy" in den Pop-Olymp aufgestiegen ist, nagt L.A. sichtlich an ihm. Innere Konflikte, Einsamkeit, zerbrochene Beziehungen, Schuldeingeständnisse sowie diverse Drogen bestimmen seine Welt. Das manifestierte sich schon zu Teilen in seiner EP "My Dear Melancholy". Er sehnt sich nach seinem Zufluchtsort Las Vegas. Die ersten sechs Songs porträtieren ruhig und sphärisch diese düstere Reise.
Den Anfang macht "Alone Again" mit flirrenden Synthies, tiefen Drums und Bässen, gefolgt von "Too Late", das mit dem Sound des UK Garage an "Wasted Times" erinnert. Beim verträumten "Hardest To Love" denkt man zunächst an 070 Shakes "Guilty Conscience", was jedoch schnell in Liquid Drum'n'Bass übergeht. Es beinhaltet zudem einen wunderschönen Refrain. Daran schließt die gelungene 80s-Ballade "Scared To Live" an, die zum eng umschlungenen Schwof unter der Discokugel einlädt.
"Snowchild" spielt mit verschiedenen Metaebenen, es geht um den Schnee aus dem kalten Kanada wie auch um Kokain. Leider klaffen hier die lyrischen Ansprüche auseinander: Gewährt uns The Weeknd in der ersten Strophe noch Einblicke in seine schwierige Jugendzeit, schwadroniert er in der zweiten über nicht glücklich machenden Reichtum, nervende Paparazzi, Patrick Swayze und leichte Mädchen. Das packt er auch noch in Fremdscham evozierende Zeilen: "She like my futuristic sounds in the new spaceship / Futuristic sex, give her Philip K dick." Uff, schwere Kost. Das etwas tranige "Escape From LA" spannt den Bogen zum nächsten Kapitel der Story und klingt sanft aus.
Ab hier nimmt das Album an Fahrt auf und ist größtenteils in Synthiepop der 80er getränkt. The Weeknd ist in Las Vegas angekommen und lässt die Sau raus, hörbar im frenetischen "Heartless". "Faith" spiegelt seine innere Zerrissenheit und den Kampf gegen sich wieder, musikalisch gekonnt im drückenden Darksynth verortet. Abel verliert schließlich die Kontrolle und bekommt Probleme mit den Gesetzeshütern, wie verhuschte Sirenen und elegische Ambient-Sounds suggerieren.
The show must go on, in der Stadt der Sünde, und Abel beschert uns schon jetzt einen der größten Hits des Jahres. "Blinding Lights" fräst sich dank heller Synthies à la A-ha und Uptempo in den Gehörgang. In ähnlichem Fahrwasser schwimmt "In Your Eyes", das noch mehr in Richtung Romantik samt angenehm kitschigen Saxophon-Solo drückt. Das Niveau hält "Save Your Tears" aber nicht: ein dröger und viel zu einfach gestalteter Popsong.
Das Interlude "Repeat After Me" läutet den letzten Abschnitt von Abels Reise ein. Der Beginn könnte glatt von Kanye West stammen, mit seinem Stampfbeat und den gedämpften, unverständlichen Lyrics. Jedoch schwenkt es dann in ungreifbare Sphären und mäandernde Melodien, dank Tame Impalas Produktion in den nächsten Song.
Der Titeltrack setzt ein, ohne Zweifel das Glanzstück auf "After Hours". Abel singt im Halb-Falsett über Weh und Kummer aufgrund eines gebrochenen Herzens, das inszenatorisch mit einem schüchternen Kickloop und vibrierenden Synthies beginnt und ab der Mitte mit flottem Beat voran geht. Die Grundstimmung bleibt sinister, die Spannung flacht dank Rhythmus- und Melodiewechsel nicht ab. Das Ende ist zutiefst melancholisch und einnehmend: das klarste Bekenntnis an seine "Trilogy"-Zeit. Kleine Randnotiz: Der völlig in Vergessenheit geratene Mario Winans, Ex-Puff Daddy-Protegé, war an der Produktion und am Text beteiligt.
Das Outro "Until I Bleed Out" zeigt einen emotional wie physisch entkräfteten Star, der durch den bewusst strukturlosen Song stolpert. Aufgrund immer weiter verzerrender Chiptune-Kaskaden befindet er sich genau dort, wo er am Anfang war. Las Vegas bietet nicht die erhoffte Lösung, der Kanadier bleibt weiterhin ein Gefangener seiner inneren Dämonen.
"After Hours" ist The Weeknds bisher kohärentestes Album. Es verfolgt einen roten Faden, enthält einen dramaturgischen Unterbau, ist stringent produziert und zeigt, dass ein Konzeptalbum anno 2020 immer noch funktioniert. Alleine dafür gebührt ihm der größte Respekt. Zugute kommt ihm der Verzicht auf jegliches Features, nur hinter den Reglern holt er sich tatkräftige Unterstützung. "After Hours" dokumentiert eindrucksvoll Abels finstere Reise durch seine seelische Marter.
8 Kommentare mit 4 Antworten
Der Abel hat ein echt gutes Album hingelegt. Ist natürlich nicht zu vergleichen mit seinen ersten Veröffentlichungen, dennoch eine Steigerung zu "Starboy". 4/5 sind wirklich berechtigt.
Gutes Ding, Wertung geht klar. Die 80er sind back!
Sehr Gutes Album.
4/5
Sehr gelungene Review zu einem großartigen Album. Produktionen Top und Abel in Hochform. Für mich sein bestes, seit House Of Balloons und klare 5/5.
So sieht's aus, auch wenn ich vielleicht nicht so hoch gehen würde. Hätte aber nicht erwartet, dass er nach all den durchwachsenen Alben auf Album-Länge nochmal so abliefert.
Ein naiser Albung, diese.
Autotune sucks. Autotune SUCKS! Gehört 1/5
Lösch Dich!
Nö
5/5 fuer mich sein bestes album, die trilogy miteinbezogen, die doch heute etwas angejahrt, etwas zu sehr glorifiziert wird, und an einer etwas fragwuerdigen produktion und unreifer stimme abels krankt. hingegen gelingt diesem album der spagat zwischen der noetigen edgyness und popappeal. wir erleben gerade peak weeknd.