laut.de-Kritik
"Die Geschichte dieser Welt handelt von Menschen, die sich streiten."
Review von Dominik LippeUnheilvolle Fanfaren im Stil der "Krieg der Welten" kündigen die bevorstehende Schlacht an. Doch die Bedrohung kommt nicht von außen. Vielmehr liegen die Konfliktlinien innerhalb des Systems. Sie verlaufen zwischen Arm und Reich, Stadt und Land, Ost und West, Rechtspopulisten und Flüchtlingen. Verkürzt gesagt gilt: "Alle gegen Alle".
Dabei schienen die großen Konflikte bereits der Vergangenheit anzugehören. Nach dem Zerfall der Sowjetunion glaubte Francis Fukuyama das "Ende der Geschichte" zu erkennen. Mittlerweile konnte sich die westliche Welt eindrucksvoll davon überzeugen, wie fragil ihr Wertesystem ist. Vom düsteren Ist-Zustand und noch finstereren Zukunftsaussichten erzählt "Alle gegen Alle": "Die Geschichte ist noch nicht zu Ende, doch wir haben vorgeblättert. Auf den nächsten Seiten wird das Scheißbuch leider auch nicht besser."
In ihrer pessimistischen Zustandsbeschreibung "Was Für Eine Zeit" skizzieren Zugezogen Maskulin eine entpolitisierte Gesellschaft, die sich in Nichtigkeiten verliert: "Ohne Staat und Kollektiv, wie schlägt man da die Zeit tot? Beisenherz, Dagi Bee, Snapchat, Psaiko.Dino." Insbesondere die Bürger der ehemaligen DDR sehen sich nun mit den vergifteten Blüten eines Kapitalismus konfrontiert, die vor 30 Jahren noch verlockend erschienen: "Was sagt ihr zu Kollegah trägt Versace? Schreibt's uns in die Kommentare. Dafür gingen meine Großeltern '89 auf die Straße."
Um seinem Leben doch noch eine Bedeutung abzuringen, hilft wohl nur eines: "Alles ist zum Kotzen, Mittelmaß wohin man sieht. Naja, mit etwas Glück sterb' ich bald in einem Krieg." Für all die "Girls"-Gucker, ideenlosen Influencer und Jung-Journalistinnen bliebe dies wohl der letzte Ausweg aus ihrem egozentrischen Kreislauf.
Der blutige Kampf ist nach Lesart von "Vor Adams Zeiten" ohnehin in den Genen eingeschrieben: "In mir ist die Steinzeit und der Krieg und die Geilheit und der Trieb und die Angst, dass das irgendeiner sieht." Unter dem mühsam erworbenen Firnis der Zivilisation verbirgt sich der animalische Naturzustand: "Denn wenn ich sympathisch lächele und ihr Selfies mit mir macht, rast in mir mein Planet weiter finster durch die Nacht."
Persönliche Erfahrungen kommen in der tristen Entfremdungshymne "Heiko & Uwe" zum Tragen. Über eine traurigschöne Produktion von Silkersoft vermittelt das Duo die Erkenntnis, mit den Bezugspersonen der Kindheit keinerlei Gemeinsamkeiten mehr zu haben und diese nur noch vage äußerlich wiederzuerkennen: "Jetzt nicken wir uns zu und gehen aneinander vorbei." Zwar gilt für Grim104 nicht mehr "den Schwächsten von uns opfern, um uns selber abzulenken", doch ganz rückstandslos lassen sich die eingeflößten toxischen Erfahrungen der Jugendzeit nicht tilgen: "Das Gift in mir lebt weiter, es geht nie wieder vorbei."
Immer wieder behandelt Zugezogen Maskulin auch den Vorbildcharakter Aggro Berlins ("Yeezy Christ Superstar", "Teenage Werwolf"). Auch wenn die beiden Rapper mit einem intellektuellen Überbau daherkommen, steht die Aggressivität und überspitzte Inszenierung in der Tradition des Berliner Labels: "Hexenjagd quer durch die Bürgertumpresse. Jugend in Flammen, wir waren Teil einer Sekte. Sägeblatt-Shirt, alle Spießer empört."
Dabei vermittelt Testo glaubhaft, dass ihn Künstler wie Sido nicht nur musikalisch beeinflussten, sondern vielmehr Erweckungserlebnisse auslösten, die eine nachhaltige Wirkung auf den Rapper ausübten: "Mein Zimmer war eng, klein und muffig. Punk war tot und das Lego verstaubt. Durch die Straßen dröhnte die Stille und dann kam da dieser Sound."
Nach dem einem Fritz-Lang-Film entlehnten Song "Der Müde Tod" schließt "Alle gegen Alle" mit einem weiteren beklemmenden Highlight ab. "Steine & Draht" umreißt die Familiengeschichte der beiden Rapper über drei Generationen in Deutschland. Angefangen bei Grim104s Großvater, dessen Generation sich im Spannungsverhältnis zwischen Holocaust und eigenen im Krieg erbrachten Opfern bewegt: "Schwarzer Rauch stieg wieder aus den Schloten, mischte sich im Himmel in die Asche von sechs Millionen. Krieg verloren und doch gewinnen. Wunder aufgebaut auf Trümmern, sing die beiden Strophen laut, sonst hörst du in den Steinen, durch die du stolperst noch das Wimmern."
Eindringlich schildert das Duo, wie sich zwischen den naturgegebenen Konstanten des Landes fortwährende Umbrüche vollziehen, die zu wechselnden Grenzen und Systemen führen: "Land zwischen Bergen und Meer, dazwischen Steine und Draht, das keine Heimat ist, wenn man nicht gerne Heimat sagt."
Zugezogen Maskulin sind sich des Flusses der Zeit bewusst, liefern aber gleichzeitig ein im Hier und Jetzt verankertes Werk ab. Nicht auf den perfekten Flow aus, sondern verzweifelt schreiend, keifend, melancholisch jammernd - je nach emotionalem Bezug zu den Themen der Songs. Noch konsequenter, noch wütender, noch analytischer, noch persönlicher als "Alles brennt". Ein Geschenk von einem Album.
19 Kommentare mit 35 Antworten
ungehört 5/5
"Dafür gingen meine Großeltern '89 auf die Straße."
Sind das Millennials?
Wird ausgeliehen und mit Nero Burning Rom versicherheitskopiert, um dem edgy Charakter der Platte gerecht zu werden.
anschließend noch auf Minidisc kopieren
Darfst du nicht
Album des tages vielleicht...
4/5. Sie liefern ab. Weiter so. KIZ Vergleiche taugen null. Sind viel besser.
Nja, ich weiss ja nicht. Aber ich hatte bisher immer so den Eindruck, wenn ich was von denen gehört hab (und die gehören schon eher zu den D-Rap-Artists, denen ich Respekt zolle), dass Plattenbau-Testo den guten, friesischen Herrn Grim 104 irgendwie ausbremst. Grim geht steil; der hat sowohl vordergründig wie auch skilltechnisch (und schauspielerisch) einiges drauf, und flowt abgehackt auf hohem Niveau rum, was man erstmal können muss.
Testo hingegen würde ich vortrags- und performancemässig allerhöchstens auf 'nem semi-soliden Level ansiedeln, eigentlich ziemlich lame.
Finde, Grim sollte sich einen anderen Partner suchen, oder Solo mehr machen.
Was ich bisher von diesem Album gehört hab' ist auch ziemlich schwach, vor allem Beats/Sound. Max. 2/5.
Ich seh es genau umgekehrt.
Grim ist für mich oft nur schwer auszuhalten, auch textlich nicht wirklich überzeugend. Testo schafft es hingegen wie kaum ein anderer deutscher Rapper in kurzen Sätzen seine Gedanken auf den Punkt zu bringen.
Sah Testo früher hinter Grim. Was auch an Grims grandiosen EP (2013) lag. Auch auf Alles Brennt fand ich Grim stärker. Mittlerweile, sind beide auf Augenhöhe und das ist gut so.