Porträt

laut.de-Biographie

Advanced Chemistry

Manch einer hat sein Herz in Heidelberg verloren. Wer im Sommer 2004 den Feierlichkeiten anlässlich des zehnjährigen Jubiläums von 360 Grad Records beiwohnen darf, kann zumindest feststellen, dass dort das Herz des Phänomens "Hip Hop in Deutschland" noch immer schlägt. Mit Torch, Toni L und Boulevard Bou stehen Deutschrap-Legenden der allerersten Tage auf der Bühne und katapultieren eine aberwitzig durchdrehende Crowd in der Zeit zurück ...

Best of 1992: 30 Jahre, 30 Songs
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Vor drei Dekaden erreichte die Grungewelle ihren Peak, Crossover war der heiße Scheiß, und ein kanadisches Weißbrot zeigte der Welt Dancehall.
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... back in the days of Advanced Chemistry. Die Geschichte beginnt in den frühen 80er Jahren. Aus den USA schwappt eine Mode zu uns herüber: Kultfilme wie "Wild Style", "Beat Street" oder auch "Flashdance" machen Breakdance populär. Viele der heutigen alten Hasen im Rapgame beginnen ihre Karrieren als B-Boys. Der Funk und das Rebellische der neuen Bewegung ziehen junge Leute verschiedenster Herkunft in ihren Bann. Es sind besonders Angehörige unterschiedlicher Minderheiten, die unter dem eben entstehenden Dach Hip Hop eine Bleibe finden. Viele sind Deutsche ausländischer Herkunft, ihre spezielle Problematik: Sie stehen zwischen den Kulturen, fühlen sich fremd im eigenen Land.

Advanced Chemistry formieren sich 1987. In New York ist seit Mitte der 80er die Native-Tongue-Bewegung aktiv, ein loser Zusammenschluss von Hip Hop-Gruppen (darunter die Jungle Brothers, Queen Latifah, Afrika Bambaataa, A Tribe Called Quest, De La Soul und Black Sheep), die mit experimentellen Sounds und intellektuellen Texten einen Gegenpol zum dominierenden Gangsta-Rap der West Coast bilden. Beeinflusst von dieser Art amerikanischen Conscious-Raps greifen Advanced Chemistry politische Themen auf, verweisen auf bestehende Missstände wie zunehmende Ausgrenzung von Minderheiten und wachsenden Rechtsradikalismus. Die fünf Gründungsmitglieder wissen, wovon sie sprechen. Frederik Hahn aka Torch ist Deutscher mit haitianischen Wurzeln. Toni Landominis Eltern stammen aus Italien, die von Linguist, mit bürgerlichem Namen Kofi Yakpo, aus Ghana. Mike Dippon aka DJ Mike MD aus Illingen, Großraum Stuttgart, liefert das schwäbische Element, während Gee-One (oder Gonzales Maldonado) einer Familie entstammt, die vor der chilenischen Pinochet-Diktatur über England nach Deutschland geflohen ist. Bülent Teztiker aka Boulevard Bou, der stets im Advanced-Chemistry-Umfeld anzutreffen ist, bringt neben erstklassigem Produzenten- und DJ-Talent deutsche wie türkische Rapeinlagen zu Gehör, und bei DJ Suicide, der später zu Advanced Chemistry stößt, handelt es sich um einen in Bulgarien aufgewachsenen Ostberliner, der heute in Australien lebt. Alles drin, also. Das Interesse an Sprachen, anderen Kulturen und Politik ergibt sich nahezu zwangsläufig.

Die fünf mischen auf zahllosen Jams mit, geben Konzert um Konzert. Zunächst rappen Torch, Toni L und Linguist, wie zu der Zeit üblich, auf Englisch. Aus den Ansagen zwischen den Songs entwickeln sich deutschsprachige Freestyles (womit Torch um 1985 der erste deutsch reimende Rapper gewesen sein dürfte), schließlich vollends deutsche Texte. Als eine der wenigen deutschsprachigen Gruppen treten Advanced Chemistry der Zulu Nation bei; 1985 ernennt Gründer Afrika Bambaataa Torch zum ersten deutschen Zulu King.

DJ Mike MD startet um 1983 als Breakdancer. Mit seiner Pforzheimer Crew "Rocking Force" ist er in den Jahren von 1988 bis 1995 regelmäßig auf Jams in ganz Europa unterwegs. Nebenher erwirbt er sich Lorbeeren als DJ und Produzent, und das hauptsächlich deswegen, weil er (aus Mangel an vorhandenem Material) gezwungen ist, die Mixtapes, die er zum Tanzen braucht, selbst zusammenzustellen. Vor Advanced Chemistry ist er Mitglied des englischsprachigen Duos Colors United, die ebenfalls bereits eindeutige politische Statements in ihren Texten unterbringen. Gee-One (der gemeinsam mit Akim Walta von MZEE das Magazin "On The Run" begründet) und DJ Mike MD verlassen Anfang der 90er die Gruppe. DJ Mike MD gibt an, er habe sich von Torch, Toni L und Linguist bei der Auswahl des Managements übergangen gefühlt. Als ihm bei einem Auftritt in Bern Akim Walta als Manager präsentiert wird, ohne dass er an einer derart weitreichenden Entscheidung beteiligt worden wäre, bedeutet das für ihn das Ende des gemeinsamen Wegs, obwohl der Ausstieg von keiner Seite jemals offiziell bestätigt wird. Mike betreibt danach ein Musikstudio, produziert etliche Solostücke für Toni L, ist in gemeinsame Projekte mit Linguist involviert und hat diverse Einzelprojekte im Latin-, House- und Brasil-Bereich am Start.

Advanced Chemistry, zum Trio geschrumpft, präsentieren 1992 mit "Fremd im eigenen Land" die Produktion, die ihnen den Ruf als Pioniere einbringt. Zu diesem Zeitpunkt haben die Fantastischen Vier zwar bereits zwei Singles und ein Album veröffentlicht; den Stuttgarter Spaßrappern fehlt allerdings der Rückhalt innerhalb der Hip Hop-Szene - weswegen "Fremd im eigenen Land" in den Augen vieler die erste deutsche HipHop-Produktion darstellt. Auf jeden Fall etabliert der Track den Begriff "afro-deutsch" und bildet den ersten in einer ganzen Reihe von Songs, die politische Stellungnahmen mit biographischen Schnipseln versetzen; in dieser Tradition finden sich unter anderen Stücke von Afrob, D-Flame und Samy Deluxe.

Es folgen die Singles "Welcher Pfad führt zur Geschichte" (1993), "Operation §3" und mit Unterstützung von Comedy-Ikone Anke Engelke "Dir fehlt der Funk" (beide 1994). Der erste und einzige Longplayer, schlicht "Advanced Chemistry" betitelt, erscheint 1995. veröffentlicht wird anfangs bei MZEE, später auf dem eigenen Label 360 Grad, das (wie eingangs erwähnt) 2004 im Heidelberger Karlstorbahnhof sein zehnjähriges Bestehen mit einer zweitägigen Jam abfeiert, die sich gewaschen hat.

Advanced Chemistry touren gemeinsam mit IAM, Afrika Bambaataa und den Stereo MC's durch Europa; Torch, Toni L und Boulevard Bou schaffen darüber hinaus den Sprung über den großen Teich und absolvieren Auftritte in den USA.

Die älteren Advanced-Chemistry-Stücke enthalten deutlich mehr afrikanisch inspirierte Beats und karibische Elemente, was in erster Linie auf die Experimentierfreude Linguists (aka Korporal K) zurückgeht. Er und Adé Bantu führen 1991 Advanced Chemistry und Exponential Enjoyment für deren Album "Chop Or Quench" zusammen; daraus entsteht der 1993 publizierte Track "Polyglott Poets", bei dem in sechs Sprachen gerappt wird. Linguist ist in der Initiative Schwarzer Deutscher (ISD) engagiert; nach seinem Studium der Linguistik, Politikwissenschaft und Ethnologie widmet er sich Juristerei und Management und arbeitet in London bei der internationalen Menschenrechtsorganisation FIAN. Für 2002 ist ein Soloalbum geplant, das in Zusammenarbeit mit Mike MD entstehen soll; dieses Projekt liegt mittlerweile allerdings seit Jahren auf Eis.

Torch trägt die Fackel der Hip Hop-Kultur seit über 20 Jahren. Auch er begann als B-Boy, rappt und legt (als DJ Haitian Star) Platten auf. Seine Aktivitäten als Writer haben ihm im Verlauf seiner Karriere das eine oder andere Mal in Konflikt mit dem Gesetz gebracht. Nach dem Ende von Advanced Chemistry moderiert er zwischen 1994 und 95 bei VIVA das Hip Hop-Magazin "Freestyle" (der Vorläufer der Formate "Wordcup" und "Mixery Raw Deluxe"). 1995 weiht er gemeinsam mit Boulevard Bou seine Piemont Studios ein, die von internationalen wie einheimischen Rapgrößen gerne genutzt werden. 2000 erscheint Torchs von langer Hand vorbereitetes Soloalbum "Blauer Samt", das wohl mit zum Besten gehört, das der deutsche Hip Hop jemals hervorgebracht hat.

Toni L, dem böse Spötter seit Jahren immer wieder ein "Karriereende" zuschreiben wollen, beginnt seine Laufbahn, wie kann es anders sein, als Breaker, wechselt allerdings schon bald ans Mikrofon. Bei seinem ersten Auftritt bei einer Schulveranstaltung rappt er noch Texte von Kurtis Blow, denen folgen bald eigene englische, schließlich deutsche Texte. Toni, der Koch, veröffentlicht zwei Soloalben: "Der Pate" (1997) und "Der Funkjoker" (2002). 2005 erscheint "Der Zug rollt". Und wer den Hardcoregladiator einmal in seinem Element, auf der Bühne nämlich, erlebt hat, der weiß ohnehin, dass die Zeit des Heidelbergers noch lange nicht vorbei ist.

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