laut.de-Kritik
Die Kanadierin teilt ihre Einsamkeit mit.
Review von Philipp KauseDie Kanadierin Alessia Cara teilt auf "In The Meantime" ihre Einsamkeit mit. Natürlich gibt es interessierte und zu Anfang einer Beziehung auch interessante Jungs. Warf man diesen früher vor, nur auf schnellen Sex abzuzielen, stellt Cara einen anderen Gender-übergreifenden Trend fest: Dass die Geduld selten reicht, um den Charakter der Partnerperson lieben zu lernen. Drama zu durchleben zählt laut "Drama Queen" als beliebtes Freizeit-Hobby: "Es ist nicht romantisch, es ist problematisch."
Entsprechend melancholisch gestimmt ist das Album, Alessias zweiter Longplayer, zugleich reflektiert, tiefenentspannt, flüssig, souverän durchgesungen, fühlt sich persönlich an. Der Gesang perfekt, die Beats ausgereift, Mainstream-tauglich und doch kein 08/15.
Alessia Cara durchdenkt gerne alles. Horcht in sich hinein, kritisiert sich selbst und junge Frauen ihrer Generation, wenn sie nicht flügge werden, unsicher nach einem passenden Rollenvorbild tasten. Sie hat keine Lust auf Party People, die einen Haken dahinter machen, dass sie nebenbei eine Beziehung im Handy eingespeichert haben, nur damit der Alltag nicht so langweilig ist. Die junge Frau schläft auf der rechten Seite ihres Kingsize-Betts. Die linke fühlt sich etwas kalt an, wenn ihre Hündin die nicht anwärmt, erfahren wir in "Middle Ground".
R'n'B ist rhythmisch und produktionstechnisch die Grundfarbe der Platte. Ob pur ("Slow Lie") oder in Easy Listening-Verpackung ("Apartment Song"). Der Pop-Appeal ist ausgeprägt, beinahe jeder Track wäre die geborene Single. Im Detail unterscheiden sich die stilistischen Querbezüge gewaltig, so dass ein facettenreicher und spritziger Longplayer herauskommt. Reggae-Bounces grooven schon zu Beginn in "Box In The Ocean". Disco-Streicher folgen.
Zwischen den Welten des frühen Timberlake ("Lie To Me") und, am anderen Pol, Macy Grays pendelt die Platte. Kommt Macy in Stimme und Stil nahe, mit elegant eingestreuselten Jazz-Vibes ("Shapeshifter", "I Miss You, Don't Call Me", "Find My Boy").
Vom Hip Hop/Deep Urban, dem Alessia sich als DefJam-Künstlerin annäherte, vernimmt man so gut wie gar nichts mehr. Allenfalls "Clockwork" steht für diese Schattierung, könnte man sich auf einem Janet Jackson-Album vorstellen.
Zudem sind Gospel, Folktronic, Bedroom-LoFi aus dem Sound weitestgehend verschwunden. Eine Handvoll Songs bewegt sich tief in den Mainstream-Pop, "Somebody Else" kommt genau dort auch raus. Spannender als alle Songs made in 2021 von Zara, Selena, Anne-Marie, Leon und John Mayer zusammen, klingt selbst noch das konventionellste Lied hier ("You Let Me Down"). Was sowohl mit den quirligen Beat-Architekturen hier als auch mit Alessias intim und mondän zugleich wirkenden Vocals zu tun hat.
Wunderschön durchmisst die Synästhetikerin, die bei Akkorden Farben sieht, Vergangenheit und Zukunft in "Best Days". Die sakrale und samt-softe Ballade beweist: Simples kann so damn genioussein. "Was wenn ich meine schönsten Tage bereits hinter mir habe? Die besten sind die, die wir überleben", maunzt Cara zu einem süßen Arrangement.
Der einzige Moment, der nach vorne guckt. Denn was bei der 25-Jährigen aus Ontario nun ähnlich auffällt wie bei der 24-jährigen Kollegin H.E.R., sind die textliche Verortung in Teenie-Erfahrungen und die stilistische Kehrtwende in R'n'B älteren Reifegrads. Zusammen ein kleines Oxymoron: Musik machen, die fast so klingt wie zu der Zeit, als man geboren wurde, andererseits die spätpubertäre Phase verarbeiten. Hier sammelt sich eine Fraktion des sophisticated Neo-Soul-R'n'B-Pop als Kontrast zum allgemeinen Dance-Bubble-Brei. Wobei Alessia diejenige ist, die es ins Hot Rotation-Radio geschafft hat.
Ihr "Scars To Your Beautiful" wurde totgedudelt. Der Nachschub auf "In The Meantime" hat derweil Chancen auf ewige Teenpop-Hymnen. Songs wie "(Do The) Locomotion", Kelis' "Milkshake", Kylie Minogues "I Should Be So Lucky", Duffys "Mercy" oder Gabriella Cilmis "Sweet About Me" sind kollektives internationales Kulturgut geworden und geblieben. Auch wenn vergleichbare Releases hier im User-Bereich negative Leserwertungen und abschätzige Kommentare anziehen wie Apfelstrudel Wespen. Alessia Caras kauziger Charaktergesang ist progressiv inmitten des Mainstreams. Er hat ein bisschen was von unter der Dusche und dann auch wieder etwas Glamouröses. Dieses Paradoxon übt seine Magie aus.
Noch keine Kommentare