laut.de-Kritik
Wer das Gehirn ausschaltet, erntet Alpträume.
Review von Giuliano BenassiIn den letzten Jahren schien es, als hätte sich der britische Musiker mit eher unverfängliche Themen zufrieden gegeben. Auf "Tooth & Nail" (2013) beschäftigte er sich mit zwischenmenschlichen Beziehungen, auf dem grandiosen "Shine A Light" (2016) begab er sich mit Joe Henry auf eine Bahnreise durch die USA und coverte mit ihm alte Folk- und Country-Stücke, schließlich veröffentlichte er im Sommer 2017 sein erstes Buch, eine Abhandlung mit dem Titel "Roots, Radicals And Rockers: How Skiffle Changed The World".
Doch natürlich schlägt in Billy Braggs Brust nach wie vor ein mächtiges politisches Herz. In den letzten zwölf Monaten habe er immer wieder ein Stück zu aktuellen Anlässen geschrieben, ohne die Zeit zu haben, ein Album daraus zu basteln. Also stellte er die vorliegende EP zusammen.
Schon der Titel ist eine klare Botschaft in Richtung Trump, Orbán und Co. Wer das Gehirn ausschaltet, erntet Alpträume, stellt Bragg im Opener fest. "Nur durch die Wiederherstellung von Anteilnahme und Vernunft besteht die Möglichkeit, die furchtbare Macht von Nationalismus und Unwahrheit zu brechen", erklärt er dazu auf seiner Webseite.
Auf der er übrigens handsignierte Exemplare der EP zum fairen Preis anbietet. Dass er sich gegen Trump und Brexit positionieren würde (nettes Wortspiel im Titel des letzten Stücks) ist nicht überraschend. Sorgen bereitet ihm in "King Tide And The Sunny Day Flood" auch die Erderwärmung. Ein "sonniges Hochwasser" komme in Teilen Florida immer öfters vor, erklärt er. Ein Vorbote der steigenden Wasserpegel in den Ozeanen: Es sind keine Stürme mehr vonnöten, um Keller und Straßen bei starker Flut zum Überlaufen zu bringen.
Das schönste Stück widmet Bragg einer Frau, die ihn nachhaltig beeindruckt hat. Im April 2017 hatte bei einer Kundgebung gegen Rassismus in Birmingham eine rechtsextreme Gruppierung eine Rede unterbrochen. Saffiyah Khan hatte sich neben die Störenfriede gestellt und den lautesten von ihnen einfach nur angelächelt, bis die Polizei kam. "Ihr selbstloser Akt der Solidarität ist inspirierend und erinnert uns daran, dass es möglich ist, Hass zu bekämpfen, indem man den Hetzern ganz ruhig klar macht, wie lächerlich sie eigentlich sind".
In "Not Everything That Counts Can Be Counted" bürstet Bragg den linken Labour- und traditionellen Gewerkschaftsanhänger in sich heraus. Doch geht es ihm nicht nur um die gängige britische Politik, die die Interessen der Wirtschaft vor die der Menschen stellt, sondern auch um den sonderbaren Umgang mit Fakten, der in letzter Zeit weit verbreitet ist. "Es hat sich ein freier Markt für Fakten entwickelt, in dem die am meisten verbreitete Interpretation von den Gläubigen als Gottes Wort betrachtet und im Anschluss mit Scheinargumenten bis zum Tode verteidigt wird", schreibt Bragg dazu.
Mal mit Gitarre (elektrisch und akustisch), mal mit Klavier, mal soulig, mal fröhlich, meist ernst - musikalisch versucht Bragg seine Gedanken unterschiedlich einzubetten. Sicherlich hat er schon bessere Platten herausgebracht, doch hier zählt weniger die Instrumentierung als der Grund für die Veröffentlichung. Letztlich ist es seine Aufgabe als politisch motivierter Singer/Songwriter, die aktuellen Gegebenheiten zu erkennen und beim Namen zu nennen.
1 Kommentar
Trotz politischen Inhalts sehr passabel geworden, Punktzahl voll gerechtfertigt. Bragg ist ja noch nie sehr subtil vorgegangen, aber das macht ihn authentisch und einzigartig neben dem Mainstream.