laut.de-Kritik
Die legendären Sessions.
Review von Giuliano BenassiWie schwer der Motorradunfall war, bei dem Bob Dylan unsanft neben seiner Triumph landete, wird wohl für immer eines seiner vielen Geheimnisse bleiben. Fest steht, dass er die Chance im Juli 1966 nutzte, um unterzutauchen. Gründe dafür gab es genug. Einerseits hatte er es satt, als Galionsfigur der rebellischen Jugend dargestellt zu werden. Andererseits wollte er sich um Frau und Kinder kümmern. Ein weiteres seiner Geheimnisse.
Außerdem wollte er auch endlich einmal wieder ohne Tournee-Druck Lieder schreiben. So lud er Anfang 1967 seine Tourband nach West Saugerties bei Woodstock ein, zwei Autostunden nördlich von Manhattan gelegen, um locker Musik zu machen und Demos aufzunehmen. Die ersten Sessions fanden in Dylans Wohnzimmer statt, dem Red Room, doch bald mieteten sie einen Keller in einem rosa angestrichenen Haus um die Ecke, das sie Big Pink nannten.
Zwischen März und Oktober nahmen sie Dutzende Stücke auf, teils eigene, aber auch viele Traditionals, erstaunlicherweise wenig aus Dylans schon dahin umfangreichen Back-Katalog. Der Wunsch, nach vorne zu blicken, war offenbar groß.
Die aus Kanada stammenden Richard Manuel, Robbie Robertson, Rick Danko und Garth Brooks erwiesen sich als gute Wegbegleiter, zumal sie alle mehrere Instrumente spielen konnten und munter rotierten. Brooks war außerdem für die Aufnahmen zuständig, die auf einem Zweispur-Tonbandgerät stattfanden. Die Qualität fiel entsprechend aus. Offenbar hatten sie auch nicht genügend Bänder, denn manche verwendeten sie mehrmals und überspielten einfach alte Sessions.
Von den mehr als 100 Stücken, die zum Schluss zur Verfügung standen, landeten 14 auf einem Band, das Dylan seinem Manager überreichte, damit er es unters Volk brachte. Nicht unter seinem Namen, sondern als Vorlage für Coverversionen. Schließlich hatte Dylan bislang nicht als Dylan, sondern durch die Einspielungen anderer Künstler seine größten kommerziellen Erfolge gefeiert.
Der Plan ging auf. In einer gewissen Hinsicht, zumindest. Viele Titel wurden dutzendfach interpretiert, vor allem "I Shall Be Released", "This Wheel's On Fire", "Tears Of Rage" und "You Ain't Goin' Nowhere". Mit "Quinn The Eskimo" ("The Mighty Quinn") erreichte Manfred Mann die hohen Etagen der Charts vieler europäischer Länder, unter anderem Platz eins in Deutschland und Großbritannien.
Dylans Begleitung, die ursprünglich The Hawks hießen, taufte sich in The Band um. Auch sie profitierte von den Sessions, da einige Stücke auf ihrem Debütalbum "Music From Big Pink" landeten, das als Meilenstein in die Musikgeschichte eingegangen ist.
Die Qualität der Auszüge erregte großes Interesse. Die Zeitschrift Rolling Stone forderte, dass die Sessions veröffentlicht werden sollten. Was tatsächlich geschah, zunächst in Form eines Bootlegs mit dem Titel "Great White Wonder", das offenbar von einer Kopie der Originalbänder gezogen worden war.
"The Basement Tapes" erschien als offizielles Album erst 1976. Doch von den 24 Stücken hatte The Band acht gänzlich neu aufgenommen und die weiteren zum Teil stark überarbeitet, so dass vom Ursprungsmaterial nicht viel übrig geblieben war. Dylan selbst hatte mehrere Stücke auf späteren Alben veröffentlicht und sich die Hände nicht mehr schmutzig gemacht.
Der Mythos blieb: Dass ein Superstar einfach verschwindet, um in einem Keller statt in einem Studio Musik aufzunehmen, war ein Novum. Gar die Geburt des Alt-Country, wie so mancher behauptet. Während zunehmend härtere und psychedelische Töne die Charts in Anspruch nahmen, kehrte Dylan zu seinen Wurzeln zurück, dem Folk und dem Blues. Er, der kurz vor dem Unfall sein Publikum noch mit extremer Lautstärke geschockt hatte ("Play fucking loud"), ließ es nun ruhiger angehen, wenn auch nicht akustisch im strengen Sinne, schließlich war auch eine Orgel im Spiel.
Angesichts der mystischen Aura, die diese Sessions umgibt, ist es erstaunlich, dass sie erst nach knapp einem halben Jahrhundert als Ganzes offiziell auf den Markt kommen. Eine wichtige Rolle spielte dabei Garth Brooks, der die Bänder aufbewahrt hatte und feststellen musste, dass sie sich allmählich auflösten. Für diese Veröffentlichung wurden sie digitalisiert und professionell abgemischt, was zu einer endlich annehmbaren Tonqualität geführt hat. Sofern Brooks damals daran gedacht hatte, den Pegel richtig einzustellen, denn zum Glück hat man darauf verzichtet, den Sound glatt zu polieren, wie es 1976 geschehen war. Zudem sind erst kürzlich wieder die Bänder der ersten Sessions im Red Room aufgetaucht.
Wie locker es zuging, zeigt sich gleich am ersten Track, einem Traditional mit dem Titel "Open The Door, Homer", bei dem die Beteiligten "Open The Door, Richard" singen, womit offenbar Richard Manuel, einer der Musiker, gemeint ist. Oft jammten sie einfach drauf los und improvisierten Traditionals und deren Texte, wenn sie sich nicht mehr genau erinnerten. Später hockte sich Dylan immer wieder an seine Schreibmaschine und hackte neue Lyrics ein, die gleich mit Melodien versehen und in Lieder umgesetzt wurden.
Es war ein außergewöhnliches Zusammentreffen außergewöhnlich begabter Musiker, die sich die Freiheit nahmen, ohne Druck miteinander zu spielen. Das Ergebnis ist auch heute noch hörenswert. Wie immer bei Dylans Bootleg-Series ist die Doppel-CD-Ausgabe mit einem dicken, lesenswerten Booklet ausgestattet. Wer es ganz genau wissen will, kann zur Komplett-Ausgabe mit sechs CDs greifen, die alle verfügbaren Bänder umfasst.
Doch auch damit ist der Mythos nicht vollständig entzaubert. Denn es gab auch Bootlegs mit abweichendem Material. Garth selbst erzählt, dass Dylan ihn um einen Song gebeten habe, den er aber nicht mehr auffinden konnte. Überspielt oder geklaut? Wer weiß es?
Fest steht, dass ein ganzer Haufen Texte ohne Musik übrig blieb und im Zuge der Recherchen wieder auftauchte. Sie landeten bei T Bone Burnett, der eine ganze Riege befreundeter Musiker in einen Keller in Hollywood zusammentrommelte, um sie musikalisch umzusetzen. The New Basement Tapes, unter anderen mit Elvis Costello und Marcus Mumford, erscheint praktisch zeitgleich mit den bislang komplettesten Basement Tapes. The Beat goes on.
1 Kommentar
"Die aus Kanada stammenden Richard Manuel, Robbie Robertson, Rick Danko und Garth Brooks erwiesen sich als gute Wegbegleiter" - Garth Brooks heißt allerdings Garth Hudson.