laut.de-Kritik
Eine eindrucksvolle Rückkehr.
Review von Giuliano BenassiDie erste Hälfte der 1990er Jahre lief für Bob Dylan und vor allem für seine Fans noch zäher als das Jahrzehnt zuvor. Zurückgezogen hatte er sich nicht, im Gegenteil: Regelmäßig war er auf der Bühne zu sehen, 1994 bei MTV Unplugged aufgetreten, auch veröffentlichte er neue Alben. Der Zauber vergangener Tage war aber weitgehend verflogen.
Der Tod seines Freundes Jerry Garcia von Grateful Dead im August 1995 löste in Dylan etwas aus. Während eines kalten Winters auf seiner Farm in Minnesota (gewöhnlich hielt er sich in seinem Haus in Malibu auf, ein nobler Vorort von Los Angeles) flossen die Texte wie zu den guten alten Zeiten. Als er fertig war, rief er Daniel Lanois an, der 1989 sein Album "Oh Mercy" produziert hatte. Sie trafen sich in einem New Yorker Hotel, in dem Dylan seine Texte vorlas. Ob sie ein Album hätten, fragte er schließlich. "Wir haben ein Album" so Lanois.
In Los Angeles wandelte der Produzent einen alten Kinosaal in ein Studio um. Dort vertonten sie die Texte mit Dylans Bassisten und Schlagzeuger. Ein für ihn praktisches Arrangement, da er von zuhause aus mit seiner Harley anreisen konnte. Die Arbeit ging zügig voran. Neil Young hätte sich über die gemütliche Vintage-Atmosphäre gefreut, das Material auf Vinyl gepresst und einfach veröffentlicht. Dylan jedoch war - und ist - komplizierter. Die Nähe zu seinem Wohnort empfand er als störend, er schaffe es nicht, in das Material einzutauchen. Also packten sie ihre Sachen und siedelten von der West- an die Ostküste über, in die Criteria Studios nach Miami, Florida.
Damit fingen die Probleme erst richtig an. Dylan und Lanois hingen beide sehr am Projekt. Der Meister freute sich, endlich wieder Texte geschrieben zu haben, die eine Relevanz besaßen. Er wollte ihnen ein Klangkostüm verpassen, das an den Blues der 1940er und 1950er Jahre erinnerte, mit einer Prise Link Wray. Als Mentor sah er Buddy Holly vor sich.
Lanois teilte die Begeisterung für das Material. Er sah sich in der Verantwortung, das womöglich beste Album Dylans überhaupt zu verantworten. Großes Album = großer Rahmen, so seine Gleichung, und so stand in Miami plötzlich eine Heerschar an Musikern im Studio. Neben Dylans Tourband eine Riege an Session-Veteranen und weitere geladene Gäste, sodass jedes Instrument mehrfach besetzt war - allein das Schlagzeug drei Mal.
Sie zu koordinieren, brauchte Zeit und Geduld. Lanois war willens, sie aufzubringen, Dylan weniger. Ihre Meinungsverschiedenheiten trugen sie unter vier Augen auf dem Parkplatz vor dem Studio aus. Nach einem zähen Januar waren die Aufnahmen beendet und sie gingen ihrer Wege - Dylan mit dem Entschluss, seine Platten in Zukunft selbst zu produzieren. Was er dann auch tat, unter dem Pseudonym Jack Frost. Lanois dagegen machte sich an die Postproduktion, die weiter viel Zeit verschlang.
Die Mühe lohnte sich. Als "Time Out Of Mind" im September 1997 erschien, schlug es hohe Wellen. Kommerziell war es Dylans erfolgreichstes Album seit langem (Platz 6 in Deutschland und 10 in den USA), vor allem aber lieferte es den Beweis, dass er noch relevant war und nicht lediglich eine Hülle, die seinen Namen trug. 1998 gewann er mit dem Album drei Grammys, darunter den wichtigsten für das Album des Jahres.
Die Freude, die beim ersten Hören der Platte aufkam, ist 26 Jahre später schwer nachzuvollziehen. Eine Hammond-Orgel, die den Takt vorgibt, weit im Hintergrund ein Soundbrei aus akustischen Gitarren, dann Dylans leicht verzerrte Stimme, die wie aus dem Jenseits klingt. "I'm walking / Through streets that are dead", kündigt er in den ersten Zeilen an. Wow. Straßen im bildlichen Sinne, denn er hat ein gebrochenes Herz. Einen Ausweg findet er nicht, wie die letzten Zeilen nach fünf rumpeligen Minuten zeigen. Die Klangatmosphäre ist so dicht, dass die existentielle Bedeutung von der Decke tropft:
I wish I never met you
I'm sick of love
I'm trying to forget you
Just don't know what to do
I'd give anything to
Be with you
Ein Stück für die Ewigkeit und sofort ein Klassiker in Dylans Repertoire. Nicht der einzige - Billy Joel hatte bereits vor der Veröffentlichung des Albums die Ballade "Make You Feel My Love" gecovert, Adele packte sie 2008 auf ihr Debütalbum "19". "Cold Iron Bond" gewann einen Grammy, "Not Dark Yet" knüpft inhaltlich an "Knockin' On Heaven's Door" an ("it's getting dark, to dark to see" heißt es dort), das 16-minütige "Highlands" ist eines jener ausufernden Lieder, die Dylan auf späteren Alben gerne einspielte.
Mit "Time Out Of Mind" begann ein neues Kapitel in Dylans Schaffen. Es befreite ihn vom Zwang, neue Alben aufzunehmen. Wenn er seitdem den Drang verspürt, ins Studio zu gehen, trommelt er seine Band zusammen und liefert stets interessante Ergebnisse. Wenn nicht, schreibt er Bücher, übt sich als Radio-DJ und steht regelmäßig auf der Bühne. Seitdem ist er so beschäftigt, dass ihm nicht mal die Zeit blieb, 2017 den Literatur-Nobelpreis persönlich abzuholen. Diese Ehre bürdete er Patti Smith auf, die so nervös war, dass sie den Klassiker "A Hard Rain's a-Gonna Fall" verhunzte.
Doch das ist eine andere Geschichte. Dass sich das 17. Kapitel der stets interessanten Bootleg Series allein mit diesem Album beschäftigt, ist gerechtfertigt. Dabei trafen die Verantwortlichen eine ungewohnte Entscheidung: Statt "nur" CDs und Vinyl-Scheiben mit alternativen Versionen und Demos vollzupacken, bieten sie zunächst das Album in einer neuen Abmischung an. Die Idee dahinter: Hätte Dylan bzw. Frost das Album alleine produziert, hätte es wohl in etwa so geklungen.
Ein Remix kann eine feine Sache sein, wie Giles Martin mit den späteren Beatles-Alben eindrucksvoll bewiesen hat. Michael Brauer hatte es jedoch ungleich schwerer, denn die Spuren lagen schon digital vor, im Prinzip konnte er sie also nur neu zusammensetzen. Seine Version ist weniger überfrachtet und klingt etwas dumpfer, Dylans Stimme bleibt aber dieselbe, wie auch die Länge der Stücke. Neue Erkenntnisse lassen sich vielleicht mit der Lupe finden, Aha-Momente kommen aber nicht vor.
Lanois' Mühen waren also nicht umsonst - seine Produktion verleiht dem Album tatsächlich das gewisse Etwas. Die von den vorangegangenen Bootlegs gewohnten Outtakes finden sich dann auf weiteren CDs bzw. LPs. Auf der "Basisversion" (2 CDs / 4 LPs) finden sich zwei Tracks aus der Demo-Session in Kalifornien. Der erste ist das einzige nicht selbst geschriebene Stück, die aus Schottland stammende Volksweise "The Water Is Wide", die Dylan mit Joan Baez 1975/76 im Livespektakel "Rolling Thunder Revue" gespielt hatte. Eine Aufwärmübung, die durchaus ihren Charme besitzt.
Wie schwierig die Beziehung zwischen Dylan und Lanois war, zeigt sich an "Red River Shore" und "Mississippi", die es beide nicht in die finale Tracklist schafften, wobei letzteres auch ein Dylan-Klassiker ist. Er packte sie dann auf das Folgealbum "Love And Theft" (2001).
Die 5 CD / 10 LP-Version, letztere nur über Dylans Webseite verfügbar, ist dagegen fast zu ausufernd. Mit dabei sind auch Liveaufnahmen aus den folgenden Jahren, manche Stücke von der letzten CD sind zudem bereits erschienen, auf der Bootleg Series Vol. 8 (2008). Schon für die Deluxe Edition mit fünf CDs, die auch auf Spotify zugänglich ist, benötigt man Sitzfleisch. Wer dazu noch Freunde zum andächtigen Hören einlädt, sollte sich nicht wundern, wenn zum Schluss folgende Zeilen durch den Kopf gehen: "I'm sitting / In this room that is dead".
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