laut.de-Kritik
Jaars Trademark-Sound gepaart mit heulenden Gitarren.
Review von Florian DükerNicolas Jaar ist ein umtriebiges Chamäleon. So umtriebig, dass es schwer fällt, den Überblick über seine zahlreichen Veröffentlichungen zu behalten. Der chilenisch-amerikanische Produzent, Komponist, Sänger und DJ hat allein im letzten Jahr zwei Studioalben und einen Soundtrack unter seinem echten Namen sowie ein Album und eine EP unter dem Moniker A.A.L. (Against All Logic) herausgebracht. Wer weiß, ob es da draußen noch mehr Musik von ihm gibt, die er mit irgendeinem geheimen Pseudonym getarnt hat?
Nicht gerade geheim, aber wahrscheinlich trotzdem noch unter dem einen oder anderen Radar schwebend ist Nicolas Jaars Wirken im Kollabo-Projekt Darkside mit dem Multiinstrumentalisten Dave Harrington. Dieser ging früher auf die selbe Uni wie Jaar und unterstützte ihn auf der "Space Is Only Noise"-Tour. Die beiden haben so gut miteinander harmoniert, dass die erste gemeinsame EP im Nu fertiggestellt war. 2013 folgte "Psychic", das erste Studioalbum, das sowohl von Kritikern als auch Fans sehr gut aufgenommen wurde. Diese überraschte das Duo außerdem mit einem Remix des kompletten "Random Access Memories"-Albums von Daft Punk - in der typischen Versteckspiel-Manier Nicolas Jaars natürlich unter einem Pseudonym: Daftside.
2018, fünf Jahre nach "Psychic", haben sich Jaar und Harrington erneut getroffen, um in einem kleinen Mietshaus im US-Bundesstaat New Jersey gemeinsam an frischem Material zu arbeiten. Die Chemie muss noch immer gestimmt haben, denn im Dezember 2019 waren neun neue Stücke im Kasten. Nun stellt sich die Frage: Überträgt sich diese Chemie zwischen den beiden Einzelkönnern auch auf das Endprodukt?
"Spiral", so nennt sich das zweite Album des Duos, beginnt atmosphärisch und mystisch: "Narrow Road" ist ein typisches Jaar-Intro, dem Harrington im letzten Drittel mit seiner durchdringenden E-Gitarre seinen Stempel aufdrückt. Leichter zugänglich und eingängiger - wohl auch deshalb als zweite Single-Auskopplung gewählt - erscheint "The Limit", das sich schon allein wegen der Bassline zu hören lohnt. Einzig die Bridge ("Current with no direction") hätte noch etwas weiter gesponnen werden können, sind die überraschenden Akkordwechsel doch zu schnell schon wieder vorüber. Nach dieser Bridge scheint der Sound plötzlich wegzubrechen, wie bei einem Computerspiel, das durch einen Glitch zum Absturz gebracht wird und beunruhigende Tonfetzen von sich gibt. Zum vollständigen Crash kommt es allerdings nicht, der vorherige Beat kehrt zurück und löst die Spannung auf.
Als einziger Vokalist auf der Platte fungiert Nicolas Jaar mit seinem teilweise verzerrten Gesang und Falsett. Seine Texte hält er häufig vage, was natürlich reichlich Interpretationsspielraum schafft. "Lawmaker" zum Beispiel ließe sich mit etwas Fantasie auf die aktuelle Pandemie-Situation und die teilweise auftretende Skepsis gegenüber Impfungen und Medikamenten beziehen: "He's wearing a doctor's coat / But in his hands is the ring of a lawmaker / He's got the cures we need / People rejoice and laugh / They say how hard it's been / And how easy it'll be".
Ärzte als getarnte Gesetzgeber und Abgeordnete? Ein umjubeltes Heilmittel, das Abhilfe verspricht und die schwierige Zeit beenden soll? Sind das etwa Anspielungen auf die gegenwärtige Pandemie und die sich weltweit vollziehende Impfkampagne? Ist Nicolas Jaar am Ende sogar Impfgegner oder Coronaleugner? Wohl kaum. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass das Album bereits Ende 2019 fertiggestellt war. Im dramatischen Mittelteil des Stückes besingt Jaar das fatale Schicksal derjenigen, die das Heilmittel eingenommen haben: "One by one, they stop seeing the colors they used to see / And the light turns bleak, wide red / And their limbs go 'round instead / And now the crowd is naked on the ground". Blindes Vertrauen, Personenkult, Fanatismus... all das kann sicherlich ins Verderben stürzen. Ob es sich bei diesem Heilmittel nun tatsächlich um vermeintliche Medizin, um Religion, Politiker oder etwas ganz anderes handelt, bleibt offen.
Das exotisch klingende "I'm The Echo" bietet Harrington reichlich Raum, um die Show zu stehlen, was er mit seiner quietschend aufheulenden Gitarre bereitwillig tut. Der melancholische Titeltrack hingegen bremst das gerade aufgenommene Tempo gewaltig. Ob man das nun als willkommenen Wechsel der Atmosphäre aufnimmt oder langweilig findet, bleibt dem Hörer überlassen und hängt von der jeweiligen Stimmung ab. Diese Entschleunigung dauert allerdings knappe fünf Minuten an - überhaupt bekommt die Musik auf "Spiral" reichlich Raum zur Entfaltung, denn mit Ausnahme des besagten Titeltracks und dem darauffolgenden "Liberty Bell" ist keines der neun Lieder kürzer als fünf Minuten.
Wie es sich für eine erste Single gehört, marschiert "Liberty Bell" mit unheimlichem Groove voran und weckt Assoziationen zu den wunderbaren DJ-Sets, mit denen sich der in New York geborene Sohn eines chilenischen Künstlers und Architekten damals einen Namen in der Electronic- und Dance-Szene gemacht hat. Nicht nur dieses Stück zeugt von meisterhafter Produktion und bündelt die sich ergänzenden Kräfte der beiden Einzelkünstler Jaar und Harrington zu einer Symbiose aus Electronic und Rock, psychedelisch, glitchy, exotisch.
Das mehr als acht Minuten andauernde "Inside Is Out There" entfaltet seine Wirkung wohl am besten, wenn man sich darin wie in einer Art Trance verlieren kann. Nüchtern und oberflächlich betrachtet passiert hier relativ wenig: so gut wie kein Gesang, keine Rhythmuswechsel, keine Strophen, kein Refrain, keine Bridge, ein ständig gleich bleibender Beat. Was passiert und variiert, ist subtil: kurze Klaviermelodien im Hintergrund, verzerrtes Vogelgezwitscher, schwer identifizierbare Instrumente, die so schnell abtreten, wie sie aufgetreten sind. Es lohnt sich, bis zum Ende des Albums dranzubleiben, denn mit "Only Young" beschließt eines der besten Stücke des Albums das zweite Kapitel der nun fast zehn Jahre alten Geschichte des Duos. Begleitet von Orgel-Klängen gibt sich Jaar optimistisch: "The problem solves itself in a stranger's house / On a hidden road". Das Schlusswort erhält Harrington, der seine Gitarre mit einem absolut lohnenswerten Solo erneut aufheulen lässt.
"In dieser Kombination machen wir Dinge, die wir alleine niemals machen würden. Darkside ist dieses dritte Wesen im Raum, das irgendwie auftaucht, wenn wir zusammen Musik machen", erklärt Harrington die Magie ihrer Zusammenarbeit. Jaar ergänzt: "Wenn wir zusammentreffen, dann liegt das daran, dass wir es kaum abwarten können, wieder gemeinsam zu jammen". Auch wenn das umtriebige Chamäleon bis zur nächsten Zusammenkunft bestimmt zahlreiche eigene Projekte verwirklichen wird: Eine erneute Reunion mit Harrington erscheint angesichts dieser unbestreitbaren Chemie doch recht wahrscheinlich.
Noch keine Kommentare