laut.de-Kritik

Peaktime-Electro-Pop ohne Sinn und Verstand.

Review von

Warum verändern Bands ihren Trademark-Sound, mit dem sie berühmt geworden sind? Deshalb sind sie doch berühmt geworden. Können die nicht alle einfach mal begreifen, dass man als Fan diesen besonderen Moment der ersten Begegnung für immer festhalten will? Ist doch überall im Leben so. Wer bevorzugt nicht das aufregende Kribbeln des ersten Dates gegenüber der über Jahre antrainierten, komplizierten Divenhaftigkeit? Gut, dies setzt natürlich voraus, dass man es überhaupt noch 17 Jahre am Stück miteinander aushält. Und so sitzen wir hier nun all die Jahre nach "The Back Room" vor "EBM" und eines ist schnell klar: So aufregend wie damals ist es nicht mehr bei den Editors. Dafür kompliziert. Und das nicht zu knapp.

Ich weiß schon, wer heute noch dem Editors-Sound der ersten beiden Alben hinterher heult, erntet nur noch mitleidige Blicke wie zerknitterte Raucher*innen vor Krankenhauseingängen. Aber im Ernst: Wann die Briten zum letzten Mal ein gescheites Album veröffentlicht haben, weiß kein Mensch auswendig, deshalb habe ich für euch nachgeschaut, 2009 war das. Danach wurde es ein wenig unübersichtlich und tragisch egal. Für einzelne Großtaten blieb immer Zeit, wovon man sich 2019 auf der Best-Of "Black Gold" nochmal überzeugen konnte.

Nun ist es nicht so, dass die Band uns auf "EBM" nicht vorbereitet hätte. Ebenfalls 2019 erschien nämlich die EP "The Blanck Mass Sessions", und da begann die ganze Bescherung. Mit Benjamin John Power aka Blanck Mass pressten sie sieben "Violence"-Tracks in ein Electro-Remix-Korsett. Damals lachte man noch. Heute ist Power festes Bandmitglied und nachdem alle furchtbar glücklich mit dem Akronym EBM waren (Editors + Blanck + Mass) erklärte Power der Band, wie man die eh schon tendenziell elektronischen Tracks so effektvoll mit Sounds vollknallt, dass alle Hörer*innen dieses typische Stadionkonzert-Feeling bekommen: Da ist die Stimme des Sängers, aber der Mischer kapiert es wieder nicht mit der Aussteuerung, deshalb bollert alles dumpf und nervtötend durch die Luft. Moment mal, war nicht genau das in den 80ern das Trademark von EBM-Bands wie Nitzer Ebb und Front 242?

Naja, jetzt nicht vom Thema abkommen. Habt ihr gesehen, wie schön rot das Albumcover ist? Damit erklärt uns die Band aus Birmingham, dass "EBM" ein Neuanfang ist, eine glühende Abkehr von all diesen tristen Schwarzweiß-Cover-Heulsusen wie Joy Division und Taylor Swift. Darauf eine "Heart Attack". Tom Smith ist zwar nach wie vor ein Charisma-Bolzen, aber selbst er scheitert an der Aufgabe, diesem pathostriefenden Electro-Zinnober Herr zu werden. Richtig schlimm: Wie er seine Stimme vor dem Refrain übertrieben in die Länge zieht. "Why-aaayyy-aaayyy?" Vorweg: Die Frage ist berechtigt.

Ja, die Sache mit der musikalischen Weiterentwicklung ist ein Mysterium. Niemand weiß so genau, warum es bei Mars Volta funktioniert und bei Coldplay nicht. Aber am Ende sind Mars Volta weltfremde Texaner, die höchstens Besitzer*innen von Plattenläden kennen, während sich ein Chris Martin in ausverkauften Stadien weltweit feiern lässt. Ich hege die Vermutung, dass die Editors die letztgenannte Karriere-Option nicht komplett unattraktiv finden.

Vielleicht hatten sie es auch einfach satt, immer nur für vordere Plätze in Listen wie "Die 50 melancholischsten Songs aller Zeiten" gepriesen zu werden. Daher komponierten sie nun Peaktime-Electro-Songs, die wie überfrachtete Jacknife Lee-Remixes von The Killers-Singles klingen. "Picturesque" ist hierfür ein klassisches, "Strawberry Lemonade" ein besonders abschreckendes Beispiel. Hier übt sich Smith schon mal provisorisch in simpelstem Stadion-Vokabular: "Hey what you say, hey what you say, hey what you saaaayyyyy".

Die bereits bekannte Single "Kiss" wirkt da in ihrem hölzernen Bemühen, den Zauber großer Electro-Bands wie Depeche Mode oder wenigstens die Future Islands nachzustellen, sogar vergleichsweise kreativ, da der erneut ellenlange Song sich im Laufe seiner acht Minuten immer weiter schält, bis wirklich ein neuer Kern erkennbar wird. In "Vibe" funktioniert die Transformation alter Editors-Elegie ins Dance-Gewand noch am besten. Vielleicht auch, weil er mit dreieinhalb Minuten nur halb so lang geraten ist wie der Rest.

Es sagt einiges über das Remodeling der Band aus, wenn ausgerechnet die Düster-Ballade "Silence" den Höhepunkt darstellt, in der Smith wieder den Schulterschluss zu früheren Soundpaten wie Madrugada sucht. Doch es bleibt bei diesem versehentlichen Rückfall in alte Muster. Als Mahnmal dieses grandiosen Scheiterns dient am Schluss "Strange Intimacy", wo die Briten tatsächlich Marusha-Gedächtnisfanfaren auf klassische Rock-Breaks knallen lassen.

Über den Spagat, sich selbst als Band treu zu bleiben, ohne dabei musikalisch stehen zu bleiben, sagte Smith schon vor Jahren in einem Interview: "Es ist wichtig, was wir in der Band denken. Wenn wir dadurch Konzertbesucher verlieren, ist es okay. Wenn andere dazukommen, cool. Wenn wirklich niemand mehr bei den Gigs auftauchen würde, müsste man sich vielleicht über einige Dinge unterhalten." Wird ihnen trotz "EBM" so schnell nicht passieren.

Trackliste

  1. 1. Heart Attack
  2. 2. Picturesque
  3. 3. Karma Climb
  4. 4. Kiss
  5. 5. Silence
  6. 6. Strawberry Lemonade
  7. 7. Vibe
  8. 8. Educate
  9. 9. Strange Intimacy

Preisvergleich

Shop Titel Preis Porto Gesamt
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Editors – Ebm €13,82 €3,00 €16,82

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Editors

Referenzen und Vergleiche dominieren so ziemlich jeden Artikel über die Editors, als im Sommer 2005 deren Debütalbum "The Back Room" erscheint. Zu offensichtlich …

9 Kommentare mit 2 Antworten

  • Vor 2 Jahren

    Mag alles stimmen, aber ich finds trotzdem geil. Holt mich zumindest mehr ab als der Vorgänger.

  • Vor 2 Jahren

    "EBM" hat eigentlich wie jede andere Editors-Platte ab "In this Light..." auch nur 2-3 geile Tracks die auch Live gut knallen und der Rest ist "Ja, ganz cool/ok".

    Was jetzt den großen Unterschied macht ist, dass sie hier ihren Sound wenigstens mal auf ganzer Albumlänge durchziehen. Bei "Violence" und besonders "In Dream" war das mitunter ein recht anstrengendes Vor und Zurück. Von daher Props an die Band und ich freue mich auf den nächsten Livegig.

  • Vor 2 Jahren

    Bass pluckert wieder schön. Finde, Karma Climb klingt total nach New Order.

    • Vor 2 Jahren

      Nur weil mal kurz eine Melodie auf einer Bassgitarre gespielt wird? Die Aussage ist eine Ohrfeige ins Gesicht eines jeden einzelnen New Order Mitglieds.

    • Vor 2 Jahren

      Habe nicht geschrieben, dass New Order nach Editors klingen sondern umgekehrt. Mir also bitte keine Ohrfeigen an New Order unterstellen. Ich liebe die Band und bis auf "Music Complete" haben Sie nur überragende Alben veröffentlich.