laut.de-Kritik

Melancholie, Trauer, Ironie, Satire und Sarkasmus.

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Sept heures et quinze minutes. Das ist französisch und heißt übersetzt: sieben Stunden und fünfzehn Minuten. Exakt so lange kann man sich Live-Auftritte und Interviews von Jacques Brel am Stück reinziehen, sofern man Besitzer des vorliegenden, an inhaltlicher Ausführlichkeit wohl kaum zu toppenden 3-DVD-Monstrums "Comme Quand On Etait Beau" ist.

Wer schon beim Übersetzen des DVD-Titels Probleme hat, sollte lieber gleich alle Utensilien um sich scharen, auf denen das Wort "Langenscheidt" abgedruckt ist. Leider wurde nämlich auf bei Brel lebensnotwendige Songtext-Untertitel verzichtet, so dass man als Nicht-Franzose dem in der Live-Performance ungeheuer ausdrucksstarken, oftmals cholerisch wirkenden Performer nur bis an die Lippen folgen kann.

Ein Französisch-Unterricht der anderen Art. Wenigstens sind die zahlreichen Interviews englisch untertitelt. Schließlich gedenkt man nur einmal einem 25. Todestag: Am 9. Oktober 1978 starb der in Belgien geborene und in Frankreich zu Ruhm gekommene Chansonnier Brel im Alter von 49 Jahren an Lungenkrebs, kurz nachdem er mit "Les Marquises" sein erstes Album nach einer Pause von zehn Jahren in Angriff genommen hatte.

Für die Fan-Fraktion interessant: Von dieser Session gelangen nun erstmals die vier Songs "L'amour est mort", "La cathédrale", "Avec élégance" und "Mai 40" an die Öffentlichkeit. Außerdem bislang unveröffentlicht waren "Hé! M'Man", "Le pendu", "La Toison d'or" und "Place de la Contrescarpe". Für den weniger mit Brels Historie Versierten liefert "Comme Quand On Etait Beau" dennoch einen interessanten, wenngleich langen Einblick in die Geschichte des kantigen Stars.

Mit "La vaise a mille temps" aus einer TV-Sendung des Jahres 1959 startet der Doku-Marathon in s/w, aus dem Club Domino-Auftritt von 1962 sind ganze elf Songs vertreten. Agil und drahtig gleitet Brel dort die Showtreppe hinab, gewohnt adrett in Anzug und Krawatte gekleidet, um den brav an Einzeltischen drapierten Studiogästen seine swingenden Chansons zu präsentieren.

So reiht sich Auftritt an Auftritt, die meisten aus seiner Hochzeit in den 60ern, in denen Brel mal auf einem Barhocker sitzend, mal mit Gitarre oder mit einer Tüte Süßigkeiten in der Hand ("Les Bonbons") vor sein Publikum tritt. Lässt man die noch immer unmittelbare, wuchtige Präsenz seiner Performance auf sich wirken, vermag man sich kaum vorzustellen, wie ein Live-Auftritt wohl damals im Konzertsaal gewirkt haben muss.

Ruhig steht er da, scheinbar gelöst, doch mit den ersten Worten eines Songs beginnt sein Körper inbrünstig zu zucken, seine Arme fahren zur Seite und nach vorne aus, hinter seiner Gesichtshaut regen sich die Muskeln und verursachen eine wilde Mimik und noch bevor Schweißperlen aus seinem dichten Haar kullern, merkt jeder Betrachter: Hier arbeitet, hier leidet ein Mann im Rampenlicht, hier richtet ein Dichter seine Worte selbst und ohne Umwege gerade heraus an sein Publikum.

In Brels Vortrag vermengen sich Melancholie, Trauer, Ironie, Satire und Sarkasmus; Ingredienzien, die seine Songs einzigartig machten, seine Tourneen erfolgreich und ihn selbst zu einem der wichtigsten Gesellschaftskritiker neben dem Schriftsteller Boris Vian oder Sartres Existenzialistenzirkel im Frankreich der 60er Jahre.

Ebenfalls auf die DVD geschafft hat es Brels TV-Rezitation des Musik-Märchens "Peter und der Wolf", das er 1963 gemeinsam mit einem Studio-Orchester zum Besten gab. Durch die von Komponist Sergei Prokofiev stammende Idee, jedem Instrument einen der Charaktere zuzuordnen, gerät der Vortrag zu einer witzigen und gleichzeitig höchst surrealistischen Performance.

1966 tritt Jacques Brel von der Konzertbühne ab. Fünfzehn Jahre lang hat ihn seine Passion Abend für Abend einige Pfunde verlieren lassen, damit soll nun Schluss sein. In einer schönen Szene sieht man, wie er während eines Abendessens auf Tour von einem Reporter gefragt wird, ob er sich über die Leute ärgere, die nun behaupten, er trete ganz einfach deshalb ab, weil er genug Geld habe. "Deine Frage ärgert mich", antwortet Brel schroff, "sie ist komplett unsinnig". Dann Schweigen. "Ich bin nicht käuflich. Ich lebe mein Leben, wie es mir gefällt."

Zu den Höhepunkten der DVD zählt das Aufeinandertreffen Brels mit dem französischen Leichtathletik-Idol Michel Jazy, der 1966 Europameister über 5000 Meter wurde und sein Karriereende, wie Brel, aus eigenen Stücken wählte. Glücklich mit ihrem Entschluss sitzen beide in Brels Garderobe und malen sich ihre Zukunft ohne die stehenden Ovationen der Fans aus. Richtig rührend wird es, als der Reporter Jazy erzählt, er habe ein Brel-Stück gefunden, das exakt die Länge seines Rekordlaufs von 3 Minuten und 38 Sekunden aufweist. Der Titel: "Ne Me Quitte Pas" (Verlass Mich Nicht).

Trackliste

Vol. 1

  1. 1. La vaise a mille temps
  2. 2. La cathedrale
  3. 3. Les prenoms de Paris
  4. 4. Les paumes du petit matin
  5. 5. Rosa
  6. 6. La dame patronnesse
  7. 7. Madeleine
  8. 8. Les bourgeois
  9. 9. L'ivrogne
  10. 10. Le moribond
  11. 11. Les Flamandes
  12. 12. Ne me quitte pas
  13. 13. La valse a mille temps
  14. 14. Quand maman reviendra
  15. 15. Les vieux
  16. 16. Mathilde
  17. 17. Les bonbons
  18. 18. Mon enfance
  19. 19. He !m'man
  20. 20. Le plat pays
  21. 21. Madeleine
  22. 22. La chanson de Jacky
  23. 23. Ces gens-la
  24. 24. La biere
  25. 25. Jojo
  26. 26. Fils de ...
  27. 27. Regarde bien, petit
  28. 28. L'eclusier
  29. 29. Je suis un soir d'ete
  30. 30. Vesoul
  31. 31. La quete
  32. 32. Le petit chemin
  33. 33. L'enfance

Vol.2

  1. 34. Quand on n'a que l'amour
  2. 35. ll pleut
  3. 36. Seul
  4. 37. On n'oublie rien
  5. 38. Je ne sais pas
  6. 39. Marieke
  7. 40. L'ivrogne
  8. 41. Les paumes du petit matin
  9. 42. Le plat pays
  10. 43. Rosa
  11. 44. Bruxelles
  12. 45. La statue
  13. 46. La Fanette
  14. 47. Le pendu
  15. 48. Les fenetres
  16. 49. La Toison d'or
  17. 50. J'aimais
  18. 51. Le dernier repas
  19. 52. Au suivant
  20. 53. Le tango funebre
  21. 54. Madeleine
  22. 55. Le cheval
  23. 56. Les vieux
  24. 57. La chanson de Jacky

usw.

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