laut.de-Kritik
Wer ihn nie live gesehen hat, sollte hier zugreifen.
Review von Michael SchuhWas für eine Vorstellung: Man steht vor den Toren des berühmten Johnny Cash-Anwesens House Of Cash in Hendersonville, Tennessee, wo einen John Carter Cash in Empfang nimmt und am für Fans offenen Museumsbereich vorbei in die privaten Gemächer des Tonstudios führt. "Dort hinter dem Aufnahmeraum", würde John dann sagen, "liegen noch ein paar Kisten mit Demos, vielleicht magst du dir die mal anhören."
Dieser Traum ging für Steve Berkowitz von Legacy Recordings 2004 in Erfüllung (vermutlich allein des Labelnamens wegen, oder gibt es einen Künstler mit einem epochaleren Vermächtnis als Cash?). Berkowitz schleppte die Kisten jedenfalls nach New York und muss sich inmitten der zahlreichen Outtakes, Sessions und Demos aus den 70er und 80er Jahren gefühlt haben wie Onkel Dagobert in seinem Geldspeicher. Von der finanziellen Analogie, die jede neue Cash-Veröffentlichung für ein Plattenlabel mittlerweile bedeutet, mal abgesehen, ist "Personal File" überraschenderweise keineswegs nur eine weitere müde Resteverwertung.
So lächerlich es auch klingen mag, es stimmt: von Johnny Cash könnte man auch ein gesprochenes Tischgebet auf CD pressen und der Hörer käme aus dem Jubilieren nicht mehr raus. Als Berkowitz schließlich einige Kästchen entdeckte, die mit "Personal File" überschrieben waren, wusste er, dass er auf Gold gestoßen war.
Die auf CD1 enthaltenen Songs stammen größtenteils von einer zehntägigen Session, die im Juli des Jahres 1973 stattfand. Cash war in guter körperlicher Verfassung damals, frischgebackener Vater und nach seinen desaströsen Jahren des Drogenkonsums in den 50er und 60er Jahren wieder tatendurstig.
Zwar spiegelt sich Cashs Kreativitätsdrang beileibe nicht in den damals veröffentlichten Studioalben wider, die rein für private Zwecke eingespielten "personal files" versprühen dagegen bereits jene intime Live-Atmosphäre, die Rick Rubin erst knapp zwanzig Jahre später aus dem alten Südstaatler heraus kitzeln sollte. Cashs Stimme, noch ausnehmend kräftig, surrt hier über der gezupften Akustikgitarre und verbreitet zumeist religiöse Geschichten, die man schon vom Gospelalbum der "Unearthed"-Box oder der "Love God Murder"-Box her kennt.
Die Überschneidungen mit anderen Veröffentlichungen halten sich in Grenzen, nur der Superfan dürfte "What On Earth Will You Do (For Heaven's Sake)", "No Earthly Good" oder natürlich "When It's Springtime In Alaska (It's Forty Below)" in seinem Cash-Schrein wiederfinden.
Das Verdienst an "Personal File" liegt aber nicht allein darin, aufzuzeigen, dass der der Plattenfirmenvorgaben überdrüssige 70er Jahre-Cash einfach für sich selbst Gospellieder auf der Gitarre einspielte. Vielmehr simuliert er (besonders auf den '73er-Songs der ersten CD) eine Konzertsituation, indem er den Songs interessante Geschichten und Anekdoten vorausschickt, wie er es fünf Jahrzehnte lang auf der Bühne und wahrscheinlich auch im Juli 1997 letztmals auf deutschem Boden in Koblenz zelebrierte. Dank "Personal File" hat man nun also eine Art "American Recordings"-Konzert Cashs fürs eigene Wohnzimmer.
Rund vier Jahre nach seinen letzten Drogen-Eskapaden und zwei Jahre nach seinem ersten Israel-Besuch leistet der gläubige Sänger Abbitte mit Sätzen wie "I have found a friend in Jesus / he is everything to me" oder er bittet um irdischen Frieden durch Erlösung, wenn er singt: "I found the greatest joy in my salvation" ("My Children Walk In Truth").
Die Zeile "If Jesus ever loved a woman / It was Marie Magdalene" würde wiederum Dan Brown ganz gut gefallen. Dass trotz der zahlreichen Lobet-den-Herrn-Psalmen dennoch nie CVJM-Stimmung aufkommt wie an manchen Stellen bei U2, war schon immer eine der großen Leistungen des Sängers.
Im Vergleich mit der noch ausstehenden "American V"-Platte aus Rick Rubins Cash-Nachlass stellt "Personal File" beinahe die interessantere Wahl dar. Hier wurde nichts nachvertont, keine Instrumente zu Cashs Stimme hinzugemischt. Hier spielt Johnny aus Zeitvertreib ein paar Lieblingssongs aus seiner Jugend auf der Gitarre. Und wir stehen plötzlich doch hinter der Glasscheibe des Aufnahmeraums in Hendersonville.
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