laut.de-Kritik
Schöne melancholische Momente in bieder arrangiertem Pop-Rock.
Review von Sven KabelitzJuli stammen mitten aus dem Schnittpunkt, stellen zusammen mit Silbermond etwas ganz eigenes dar. Deutscher Indie-Rock und Pop entwickelten sich seit dem Release ihres Debüts "Es Ist Juli" langsam zu dem, das uns heute mit all den Johannes Oerding- und Mark Forster-Klonen foltert. Von der Hamburger Schule über Wir Sind Helden und dem Missverständnis Sportfreunde Stiller verschmolz die Musik mit dem Kitsch, den Rosenstolz ab ihrer ESC-Teilnahme mit "Herzensschöner" für sich entdeckten. Juli hätten noch die Chance gehabt, all dies aufzuhalten. Sie scheiterten an der großen Aufgabe.
Die "Geile Zeit" der Band aus Gießen - dem Hannover Hessens - liegt bereits fast zwanzig Jahre zurück. Der Tsunami in Südostasien sorgte 2004 dafür, dass ihr Hit "Perfekte Welle" für kurze Zeit aus dem Radio verschwand. Die halbe Frankfurter Batschkapp lehnte sich gegen diese Zensur auf, stürmte wild pogend die Tanzfläche beim Einsetzen des Stücks und fühlte sich dabei rebellisch. Szenen wie in Nirvanas "Smells Like Teen Spirit"-Video spielten sich ab. Aus der wabernden Masse ragten Beine in die Luft. Zu Juli. Ich hoffe, einigen der Leute von damals ist es heute zumindest etwas peinlich.
Nach dem letzten Album "Insel" war 2014 aber erst einmal Schluss. Man brauchte Abstand von der egozentrischen Musikindustrie. Sängerin Eva Briegel nutzte die letzten Jahre, um Psychologie zu studieren und in einem Chor zu singen. In den letzten neun Jahren blieb 2019 "Fahrrad" das einzige Lebenszeichen. Das Comeback "Der Sommer Ist Vorbei" produzierten nun neben der Band auch Michael Ilbert (a-ha, Travis, Tocotronic) und Joachen Naaf (Maxim, Bosse, Klee).
Was Juli von all den aktuellen Deutschpop-Sänger:innen unterscheidet, ist ihre große Vorliebe für Moll. "Wir schaffen das"-Durchhalteparolen und "Hinfallen und aufstehen"-Standards finden sich auf "Der Sommer Ist Vorbei" nicht. In "Traurige Lieder" beschreiben sie sich selbst am besten: "Nichts macht mich so glücklich wie traurige Lieder / ... / keiner singt mehr traurige Lieder / ... / Ich versink in Melancholie / Und ich glaub, das ändert sich nie." Eben diese Melancholie zieht sich durch das ganze Album und hebt sie vom sonstigen oft nur schwer zu unterscheidenden Radio-Matsch zumindest etwas ab.
Als weiterer roter Faden dient der Blick zurück. Kurzzeitig mag es um etwas anderes gehen. In "Irgendwann" gestehen Juli dem Heute zumindest mal ein "gut" zu: "Es ist gut, wie es ist / Es war schön, wie es war." Aber die Erfüllung finden sie nur in der Nostalgie. "Ich wollte dich erinnern / Dass wir glücklich war'n / In unseren fetten wilden Jahren" ("Fette Wilde Jahre"). Next step: die Jugend von heute!
2003 war halt einfach besser, als man sich noch einfach auf die Straße fallen ließ und "Everlong" und die Sportis hörte ("Die Besten Dinge"). Okay, hier brechen wir ab. Man kann mit den Jahren im Rückblick wirklich vieles verklären, aber spätestens bei den Sportis sollte eine Grenze gezogen werden.
Diese Geschichten von anno dazumal definieren nicht nur Juli, sondern auch das Zielpublikum deutlich. Um all diese Fotos aus einer Zeit, in der es noch kein iPhone gab (verrückt!), Digitalkameras erst langsam aufkamen und Fotos noch vergilben konnten, dichten Briegel und Band Erzählungen von mehr oder weniger gescheiterten Liebesbeziehungen, die diese losen Momentaufnahmen zusammenhalten.
Der Vorabtrack "Der Sommer Ist Vorbei" dürfte sich zum Release im November noch wohl gefühlt haben. Nun, im späten April, kommt er sich wahrscheinlich wie auf einer Party vor, bei der er als einziger nicht mitbekommen hat, dass die Gastgebenden sich gestern doch noch kurzfristig entschieden haben, von lustig kostümiert zu casual umzuschwenken. Aber keine Angst, ab Ende des Jahres ändert sich das und meine Zeilen wirken deplatziert. Dafür findet sich während der ersten Strophe ein Reim, der so auch den Refrain für einen herrlich blöden NDW-Hit hergeben würde: "Ich glaub, mir war noch nie so heiß / Gib mir 'nen Kuss wie Wassereis."
Etwas wirklich Interessantes oder gar Überraschendes findet sich auf dem fünften Juli-Album nicht. "Der Sommer Ist Vorbei" bietet, was man erwartet: Bieder arrangierten Alltags-Pop-Rock, der nur dank seiner tief in der Musik verwurzelten Melancholie im Vergleich zu anderen Acts des Genres heraussticht. Mit jedem weiteren Song zeigt sich, wie austauschbar doch der vorherige war und wie wenig die Band textlich zu bieten hat. Letztlich verdeutlicht dies noch einmal, was sie bereits 2004 ausmachte. So gesehen kehren sie zurück zu alter Stärke.
12 Kommentare mit 131 Antworten
Was 2003 auf jeden Fall besser war: Es wurde noch nicht so verkrampft gegendert.
Auch schon 2003 nervig: Verkrampfte Maulereien, die überhaupt nichts mit dem Kern der Rezi zu tun haben.
Sondern eher locker, oder wie?
Was Rinkster sagt.
Stimmt, denn auch die Sprache befindet sich stets im Wandel der Zeit.
Danke, dass du den Text gelesen hast und dich bei uns angemeldet hast, Ariston. Mir liegt viel an dem Feedback der Leser:innen. Da ich aber mehrere Menschen in meinem Umfeld habe, die in solchen und anderen Texten erst durch eine Geschlechtergerechte Sprache angesprochen werden bzw. erst dann stattfinden, werde ich diese auch weiterhin nutzen. Freund:innen bedeuten mir dann eben doch mehr als die Meinung einiger User:innen. Ich denke, das dürftest du spätestens nach kurzem nachdenken verstehen.
Beide Daumen hoch, SK.
Genau, praktisch jedem in SK ist das bekannt.
Gibt ja ganz gute Einwände gegen manche Formen des Genderns, u.A. die mögliche Wahrnehmungsverschiebung, die oft in Studien durch den spezifischen Fokus stattfand, und die sich durch Gebrauch und Diskurs evtl. selbst verstärkt (verwandt mit der Unmöglichkeit, den Hinweis zu befolgen, nicht an Elefanten zu denken). Oder -praktischer gesehen - der Verlust sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten, bzw. die Ästhetik mancher etwas ungelenker Formen. Allerdings kommen nie von solch trotteligen Motzköppen, die sich eben ganz grundsätzlich darüber beschweren, wie Andere sich ausdrücken. Linguistisch gesehen sind das komplette Verlierer.
Irgendwie ist das so verschachtelt formuliert, dass ich es nicht kapiere.
Da fehlt ein "die" oder "jene"
Korrekt. "Allerdings kommen DIE nie von solch trotteligen..."
Es war durchaus mit Bezug zur Kritik gedacht. In den beschworenen 2003 wurde eben noch nicht gegendert. Und es gibt vielleicht genau Menschen wie mich, die 2003 nicht als altmodisch empfinden, sondern als eine Zeit, die deutlich unverkrampfter war.
@SK: Es steht dir frei, so zu schreiben, wie du willst, es steht mir zu, ggfs. eben nicht mehr zu lesen.
Die Neuanmeldung war übrigens notwendig, weil die ursprüngliche Anmeldungs-email nicht mehr existiert. Ich lese euch seit vielen Jahren, hab euch im RSS Feed, was vielleicht zeigt, wie lange ich dabei bin. Und mir fällt auf, dass immer häufiger eine moralische Komponente, unterschwellig oder direkt, in den letzten Jahren stärker wurde. Muss nicht so sein, ist mein Eindruck.
Und dabei sollten wir es auch bewenden lassen.
Nein, du solltest auf jeden Fall noch die gepflegte Selbstlöschung einleiten.
ich geb dem Album keine Wertung aber der Rezi einen Genderstern
ansonsten: was Ariston sagt
Dieser Kommentar wurde vor einem Jahr durch den Autor entfernt.
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Gutes Album einer Band, die immer netten Pop gemacht hat und "nett" meine ich im bestmöglichen Sinne.
Juli haben es echt nicht verdient, mit Combos wie Silbermond oder Wir Sind Helden in einen Topf geworfen zu werden.
Ist natürlich ne Pest-oder-Cholera-Liste. Aber in dieser untersten Liga des damaligen Erstipops waren Wir Sind Helden in jeder Hinsicht noch am interessantesten.
Das war oberste Liga in Kartoffelland, aber um das zu erkennen, muss man einige Fähigkeiten besitzen.
Oberste Liga zu ihrer Zeit...pff... Wenn man zum Beispiel: Die Sterne als Vergleich nimmt mit dem Album: Das Weltall ist zu weit um 2004... Dann ist das mit oberster Liga relativ... Oder aus lyrischer Sicht Kapitulation + Pure Vernunft darf niemals siegen von Tocotronic, sind das schon Welten zu den Helden... obwohl ich mich niemals als Fan beider Bands einstufen würde, bloß einzelne Lieder/Alben haben schon ihre genialen Momente... Die Sterne z.B. waren halt nie so populär, weil die ebend keine "schöne" Sängerin vorne dran stehen hatten, sondern einen Typ, der eher wie Frankenstein aussieht, mit Mut zur (Zahn)-Lücke
Ist mir unangenehm ihm zuzustimmen, aber Kackpo hat recht. Wer das für oberste Liga hält, kennt wohl zu wenig Kartoffelmusik.
Juli war die Band die zur richtigen Zeit am richtigen Ort war! Geile Zeit! MTV hatte noch ein bischen zu sagen! Dann war das Wasser zuviel und die „Perfekte Welle“ ging nach hinten los. Wurde darum im Radio nicht mehr zur Verfügung gestellt. Man fühlte sich eigentlich gut. Und dann war da „Ein Neuer Tag“! Dieses Leben hatte mein Herz getroffen. Ein super Video!
Musik mit Deutschen Texten mit Herz!
Ton Steine Scherben, Fehlfarben, DAF, IDEAL!
Wir sind Helden hatten das Emotionale mit „Von hier an Blind“ perfekt gemacht!
Juli sind mit ihrem neuen Album O.K.! Berühen tut mich das aber nicht.
Ach, "Fette Wilde Jahre" ist ganz süß. Eigentlich der perfekte Soundtrack für laue Sommerspätabende an der Lahn, während man versucht herauszufinden, ob jetzt das Müsli-To-Go oder die Frau, die nebenher läuft, ursächlich dafür ist, dass beide genannten Kriterien am Ende als Abgrenzungsmerkmal zwischen dem "normalen" Mann oder dem obdachlosen Mann fungieren.