laut.de-Kritik
Prachtvolle Songblumen zwischen Tradition und Moderne.
Review von Johannes Jimeno"Die Orchidee ist die Nationalblume Kolumbiens, und es gibt bei uns mehr Orchideenarten als irgendwo sonst auf der Welt. Ich habe mich schon immer von der Blume fasziniert und angezogen gefühlt. Dieses Album ist inspiriert von der zeitlosen, unheimlichen, mystischen, eindrucksvollen, anmutigen und sinnlichen Anziehungskraft der Orchidee. Mit dieser großen Bandbreite an frischer Energie möchte ich die Art und Weise, wie wir Latinas in der Musik sehen, neu definieren."
Ein hehres Ziel, das Kali Uchis mit ihrem neuen Album anstrebt. Um das zu erreichen, besinnt sie sich auf ihre Wurzeln und kollaboriert bis auf eine Ausnahme ausschließlich mit Künstlern aus dem lateinamerikanischen Bereich. Die Tracklist verrät bereits einiges, rein spanischsprachig bleibt sie jedoch nicht, wechselt oftmals ins Englische. In welchen Zungen sie auch ihre Hörerschaft ansingt, sie bezirzt jene mit größter Leichtigkeit. Ihre sanfte Stimme gleitet engelsgleich durch die ambitionierten Produktionen und zeichnet fast durchgehend prachtvolle Songblumen.
Konziliant streckt sie zu Beginn ihre Hand nach dem Vorgänger "Red Moon In Venus" aus, wenn "¿Cómo Así?" (Ungefähr So?) als dubbiger, atmosphärischer Deep House die Tür zu ihrem Garten aufstößt. Der perlende Latino-Pop "Me Ponga Loca" (Ich Bin Verrückt Geworden) dient als Brücke zum ersten großen Highlight "Igual Que Un Ángel" (Genau Wie Ein Engel). Ein schmeichelndes, wunderbares Duett mit dem Mexikaner Peso Pluma im Kleid des 80er Pop. The Weeknd hätte bei dem Song ebenfalls seine helle Freude gehabt. "Pensamientos Intrusivos" (Sich Aufdrängende Gedanken) nimmt den Vibe mit, jedoch verträumter und gesanglich fordernder, während ein elegantes Streicherarrangement im Hintergrund hindurch weht. Das anschließende "Diosa" (Göttin) streut verführerischen Reggaeton ein und serviert am Ende sogar Ambient House.
Die bezauberndste Orchidee von allen erblickt man an sechster Stelle: Das cineastische "Te Mata" (Das Bringt Dich Um) erzählt von einer erstarkten Frau, die eine toxische Beziehung hinter sich lässt. Ein dramatischer Bolero, bei dem Kali selbstbewusst ihr vielseitiges Können aufwartet. Großes Kino!
Leider scheint das Beet daraufhin die meisten Nährstoffe im nahen Umkreis dafür aufgebraucht zu haben, denn die nächsten drei Blumen erblassen regelrecht. Das minimale "Perdiste" (Du Hast Verloren) hat zwar seinen Charme, überzeugt jedoch nicht auf Dauer. Der süßliche R'n'B-Slowburn "Young Rich & In Love" schlurft zu träge, ihm fehlt der Verve. Ebenso hübsch anzuhören der etwas traditionellere "Tu Corazón Es Mío" (Dein Herz Ist Mein), beim dem das Interesse schnell verfliegt.
Zeit für die große Reggaeton-Keule als Weckruf: "Muñekita" (Püppchen) portraitiert die in-die-Fresse-Variante des Genres mit stumpfen Drums, greller Hauptmelodie und anrüchigen Texten. Der rappende Crazy Frog der Karibik El Alfa blökt seinen Part ins Mikro, JT von den City Girls sowie Uchis zeigen sich von ihrer arrogant-temperamentvollen Seite. Sehr effektheischend, in Latino-Clubs aber sicherlich ein Banger. Etwas zugänglicher gestaltet sich das laszive Duett "Labios Mordidos" (Sich Beißende Lippen) zusammen mit Karol G.
Die Tour durch den Orchideengarten neigt sich langsam dem Ende zu, und Kali zeigt uns noch ein pittoreskes Trio. "No Hay Ley Parte 2" (Es Gibt Kein Gesetz), die Fortsetzung des ersten Teils aus 2022, tauscht poppigen Neo-Soul mit etwas schnellerem Reggaeton aus, was wunderbar funktioniert, genauso wie der coole und flüssige Part von Rauw Alejandro. "Heladito" (Kleines Speiseeis) scheut sich nicht vor großen Gesten und demonstriert breitbeinigen Lounge-Pop für den Ohrensessel. Als Rausschmeißer wuchtet Karly-Marina Loaiza den Zweiteiler "Dame Beso / Muévete" (Gib Mir Einen Kuss / Beweg Dich) auf die Bühne. Zunächst als schwungvoller Salsa, zieht er nach der Hälfte das Tempo an mit Trompeten sowie Akkordeon und beschließt mit einem lauten Knall.
Auf "Orchídeas" zeigt sich Kali Uchis so versatil wie selten zuvor: Berückend, romantisch, sinnlich, verletzlich, stolz, souverän - sie spielt die komplette Klaviatur an Stimmungen. Traumwandlerisch beherrscht sie Tradition und Moderne gleichermaßen, was derzeit sonst nur einer Rosalía gelingt.
3 Kommentare
Bin gekommen, um das dumme, freudlos berechnende Plattencover zu hassen. Und ja, diese Reaktion ist auch eine Reaktion, also gewollt, klar. Bin jedenfalls geblieben, um die ebenso freudlos berechnende Fahrstuhl-Muzak zu schmähen: Schmäh!!!
Musik und Plattencover, alles große Kunst! "Isolation" ist immer noch mein Lieblingsalbum, aber alle Alben danach haben einen roten Faden. Dieses auch, aber es ist gleichzeitig erstmals wieder so abwechslungsreich wie das erste Album. Viele unterschiedliche lateinamerikanische Stile. Ich hoffe sehr, dass sie bald mal in Deutschland spielt.
Sie hat schon wieder abgeliefert! Ich hab ja eine Schwäche für Reggaeton und dementsprechend trifft sie hier einen Nerv. Aber generell immer wieder erstaunlich, wie vielseitig Kali ist. Mehr hier: https://youtu.be/77ERBjO2T-4?si=1V5cY1f8mH…