laut.de-Kritik

Die Abgründe, die in der Stille lauern.

Review von

Dichte Wälder, leerstehende Bauernhäuser und andere Relikte einer Zivilisation, die die Zeit vergaß, prägen die weitläufigen Landstriche Pennsylvanias. Die endlosen Baumwipfel, die verrosteten Satellitenschüsseln und die maroden Geisterstädte evozieren eine gespenstische Ruhe, die ebenso endlos wie seltsam zerbrechlich erscheint. Unbewusst wartet man nur darauf, dass sie von einem Kautabak spuckenden Landstreicher, dem fernen Knall eines Jagdgewehrs, oder einer verheißungsvoll miauenden Katze gestört wird - vergebens.

Selbst Kristin Hayter traut sich nicht, diese Ruhe zu stören. In einem fast durchsichtigen Kleid schreitet sie in den frühen Morgenstunden, in denen das Gras noch nass ist, durch das scheinbar endlose grüne Meer. "Me and the dog we die together", flüstert sie leise, in Referenz auf die örtliche Legende eines Schmieds, der von den Hunden, die er tötete, in die Hölle gerissen wurde. Inmitten von God's Country sucht Lingua Ignota nach einer höheren Macht und findet dabei nichts als Schmerz, Einsamkeit und Verrat. Wie seine Bewohner, so hat auch Gott dieses Fleckchen Erde schon lange verlassen.

So schreitet Hayter weiter alleine durch das gottlose Hinterland und singt ihre Klagelieder, die unmittelbare Apokalypse dicht an ihre Fersen geheftet. Und ihr Alias Lingua Ignota (zu deutsch: unbekannte Sprache) passt perfekt zu der verheißungsvollen Mystik, die sie mit diesem Album transportiert.

Die Wut, der Hass, die musikalische Höllenlandschaft von "Caligula", sie alle sind wie weggefegt. An ihre Stelle tritt dafür eine Wehmut, die ebenso sehr betroffen macht. Denn Hayters Traumata sind geblieben, und die Ohnmacht, die sie nach den Hürden des vergangenen Jahres und einer weiteren gescheiterten Beziehung verspürt, knüpft nahtlos an das Martyrium ihrer letzten Alben an.

Auch musikalisch bilden "The Order Of Spiritual Virgins" und "I Who Bend The Tall Grasses" eine stimmige Überleitung, in der noch die letzten Fragmente des Hasses von "Caligula" nachhallen. Die donnernden Pianos poltern wie Jumpscares in das unverdorbene Klangbild, und Hayters Stimmbänder folgen wenig später auf dem Fuß. "Take hold of my gentle axe and split him open", kotzt sie auf Papier. In ihrer Wut schwingt neuerdings jedoch auch eine gewisse Selbstsicherheit mit, die, je weiter die LP voranschreitet, mehr und mehr zur Erinnerung verkommt.

Anschließend, wenn sich das Chaos ein wenig legt und die Zornesflammen langsam erlöschen, tut sich eine völlig neue Klanglandschaft auf, die besonnen, mystisch, verheißungsvoll, ja fast schon ritualistisch daherkommt. Pennsylvania, den Rückzugsort, an dem Hayter "Sinner Ger Ready" fertig stellte, ist gewissermaßen das Leitmotiv, der Überbau des Albums und Dreh- und Angelpunkt ihres Konflikts mit Gott und der Welt. Nicht nur in den offensichtlichen Referenzen, wie der eingangs erwähnten Sage des Schmiedes oder dem endlosen Kohlenfeuer in Centralia, dass als Vorlage für "Perpetual Flame Of Centralia" dient.

Auch die Instrumentals klingen stellenweise minutenlang ähnlich dünn besiedelt wie der zweitälteste Staat Amerikas, nur um im nächsten Moment in die grandiose Opulenz einer Sonntagsmesse zu kippen. Eingespielt mit den Instrumenten der klassischen Appalachen-Musik, mit Zithern, Banjos und Autoharpen, evozieren etwa "Many Hands" oder "Repent Now Confess Now" Bilder eines Kultes, der glaubenstrunken sich umzüngelt von Flammen in Rage tanzt, während das imposante Pianospiel auf "Pennsylvania Furnace" Hayter als weiß gekleidete, engelsgleiche Predigern gen Himmel trägt.

Dieses Wechselspiel zwischen desolatem Minimalismus und spiritueller Grandiosität sorgt für einige der erschütterndsten und wunderschönsten Momente, die man für eine lange Zeit zu hören bekommen wird. Besonders die beiden finalen Tracks sind diesbezüglich zu erwähnen. Die musikalische Progression der letzten 15 Minuten von "Get Ready Sinner" sind schlicht atemberaubend. Zwei Minuten wägt einen "Man Is Like A Spring Flower" in falscher Sicherheit, ehe einen die Streicher und Zupfer auf eine Reise durch die Wälder, die Wiesen, die Berge und die Geisterstädte entführen, die dieses Album beherbergen. Immer weiter, immer schneller, immer lauter preschen sie voran, und gerade wenn man denkt, die Hölle, die inmitten dieser Unberührtheit begraben liegt, tue sich auf - Stille. Stille und ein ätherisches Klagelied, das nicht nur klingt, wie der umarmende Abspann von Hayters Geschichte, sondern wie der eines ganzen Bundesstaates: "No longer shall I wonder, Ugliness is my home".

Die aber vielleicht größte Qualität von Hayters Musik bleibt nach wie vor ihre Stimme. Die gemarterten, qualvollen Schreie ihrer letzten Alben mag man vergebens suchen, dafür findet die die 35-Jährige ebenso viele neue einzigartige Wege ihr sakrales Timbre einzusetzen. Es ist nicht nur ihr zugleich natürliches und von jahrelangem Training in der Kirche geformtes Vibrato, das ihre Musik so ergreifend machen, es ist die Art wie sie es einsetzt. Die Ambivalenz zwischen himmlischer Schönheit und abstoßender Hässlichkeit ist auch auf ihrer dritten LP immer noch ein Kernbestandteil ihrer Musik.

Dabei kippt dieses mal das Himmlische zunehmend ins Apokalyptische und das Hässliche ins Machtlose. Das finale Gänsehaut-Crescendo in "Pennsylvania Furnace", der mit dem unheilvollen Nachhall einer Sektenführerin vorgetragene Chant auf "Repent Now Confess Now", der niederschlagende Abgesang auf "The Solitary Brethren Of Ephrata" oder das Gift, das einem Hayter förmlich ins Gesicht spuckt, wenn sie auf "I Who Bend The Tall Grass" "I don't give a fuck. Just kill him" mit solcher Bosheit geifert, dass man es mit der Angst zu tun bekommt: Lingua Ignota ist ebenso sehr eine besessene, um sich beißende Linda Blair, wie die gesamte Belegschaft der Kirche, die sie zu exorzieren versucht. Sie ist eine vokale Naturgewalt, die es so perfekt wie aktuell fast niemand anderes versteht, einen Sog allein mit ihrer Stimme zu entwickeln, dem man sich einfach nicht zu widersetzen vermag.

Religion war, auch wenn es schon seit ihrem Debüt ein essentieller Bestandteil von Hayters Musik ist, noch nie ein so prominenter Bestandteil ihres Songwriting. Fast jeder Song nennt Jesus, die Hölle oder den Himmel bei Namen, webt kirchliche Bilder in die tief persönlichen Narrative, die Ignota spinnt. Seien es Samples von Tele-Evangelisten, Fernseh-Interviews von Prostituierten mit denen sie erwischt wurden, oder fundamentalistischen Christen, die ihren Glauben über wissenschaftliche Erkenntnisse stellen: Hayters Auseinandersetzung mit Religion ist sehr direkt, zynisch, aber keineswegs bösartig.

Es ist vor allem der Kontrast zwischen der Mystik, die den Erzählungen, derer sie sich bedient, innewohnt, und der oftmals daraus resultierenden realen Ignoranz, für den sich Hayter interessiert. So liest sich ein Großteil von "Sinner Get Ready" wie die Emulation einer fast schon antiken christlichen Sage, die zwar immer wieder den Bogen ins hier und jetzt schlägt, aber nie die zutiefst persönliche Geschichte in ihrer Mitte aus den Augen verliert. In den oft kryptischen Texten Hayters offenbart sich eine Verletzlichkeit und Trauer, die greifbar wird, selbst wenn man mit all den unzähligen Referenzen und der oft altbackenen, poetischen Sprache nichts anfangen kann.

Im Kern von "Get Ready Sinner" steht eine Frau, die trauert, die reminisziert, die mit sich selbst hadert, die wütet und die all dem Ausdruck verleihen will. Mittels Musik die Grenzen sprengt, die betroffen macht, die nachgeht. Die, selbst wenn der Höllenschlund, den sie heraufbeschwört, Pennsylvania längst verschlungen hat, für immer die ominösen Abgründe, die in der Stille des Hinterlands lauern, atmen wird.

Trackliste

  1. 1. The Order Of Spiritual Virgins
  2. 2. I Who Bend The Tall Grasses
  3. 3. Many Hands
  4. 4. Pennsylvania Furnace
  5. 5. Repent Now Confess Now
  6. 6. The Sacred Linament Of Judgment
  7. 7. Perpetual Flame Of Centralia
  8. 8. Man Is Like A Spring Flower
  9. 9. The Solitary Brethren Of Ephrata

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