laut.de-Biographie
Lord Scan
"Mich haben Sie wohl nicht erwartet. Schließlich hatten Sie und Ihre Freunde mich schon so gut wie abgeschrieben, nicht wahr?" Tatsache. Mit Lord Scan war nicht unbedingt zu rechnen. Um so mächtiger die Rückmeldung, die der Mindener Jahre nach dem Zerbrechen des Klans mit seinem Solo-Album hinlegt. Lord ... wer? Er verrät es weitgehend selbst: mit "Ich Bins!"
"Ich bin in Minden aufgewachsen, im verschlafenen Städtchen / Wo Fuchs und Hase sich gelegentlich des Abends begegnen." Wüsste man es nicht besser, könnte man jetzt annehmen: Hmmm, Kleinstadt ... nicht unbedingt der ideale Standort für einen aufstrebenden Rap-Act. Zunächst deutet bei dem Knaben von Interesse auch nichts auf eine derartige Karriere hin.
"So um '86 'rum war's dann tatsächlich zu spät / Als ein Bekannter meinem Vatter 'nen C64 andreht." Da haben wir den Salat. In Form einer "klobigen Konsole, Mann!" hält die Technik Einzug im Leben unseres jungen Protagonisten. Er verfällt der Faszination der Maschine. Keine Chance, es zu beschönigen: "Hast Du gehört? / Ich war 'n C64-Computernerd." Die Besessenheit zeigt erste Wirkung.
Früh übt sich: "Mit 13 hatt' ich 'nen Sampler in meinem Commodore Amiga 500, der meine Speaker gesprengt hat." Beats aus dem PC: zu dieser Zeit noch nahezu undenkbar. Zu teuer und zu unausgereift gestalten sich die technischen Grundlagen. Basteleien mit Lo-Fi-Klängen sind allerdings möglich. Ein Rückblick sorgt für Heiterkeit: "Ich hab' mir sehnlichst gewünscht, selber sowas zu machen. / Dass ich mal rappen und produzieren lern', ich hätt's mir im Leben nicht träumen lassen. / Manchmal muss ich fast lachen, denk' ich da an den Anfang / meiner ersten Experimente in Sachen Grafik und Klang. / Vielleicht versteht sich jetzt mein Hang / zur akustischen Synthetik und mein Faible für die Games mit dieser Pixel-Ästhetik." Ein Gefühl, das auch 2006 noch frisch ist: "Ich krieg' heute noch 'n Schauer, weil der Klang mir so vertraut is'."
Das Schicksal hat allerdings noch etwas anderes in petto: "Ich datier' es auf '94, als ich nur durch Zufall anfing / Pieces zu analysieren und das Writing dann selber auch anging." Der Computernerd entdeckt die Sprühdose. "Mein erster Name war Lord, der zweite war Scan. / Nen Wort, 'n paar Cans, und ich schreib', bis es brennt." Es brennt nachhaltig. Lächerliche Hürden, aufgestellt von Erziehungsberechtigten und der Ordnungsmacht, stoppen den Kreuzzug wider die grauen Wände nicht. "Mit meinen Eltern gab es massiven Krach / Doch ich blieb stur und fuhr um zwei Uhr nachts allein in die Stadt / In meiner Jacke massig Kannen mit den passenden Lackfarben / Die Affen in meim Kopf wollten den praktischen Dachschaden."
Lord Scan färbt Mauern und Züge, denn: "Was wär' die Welt ohne das Lackschnüffeln? / Ohne die Pieces oder Bombings, die Waggons und auch die Stadt schmücken? / Was wär' die Welt ohne das Buchstabenzerhackstückeln?" Zunächst unter dem Pseudonym "Lord" aktiv, wechselt er zur gefälligeren Buchstabenkombination "Scan". Zur Vermeidung von Verwechslungen kombiniert er seine beiden Namen schließlich zu einem wahrhaft einzigartigen "Lord Scan".
Seine rege Anteilnahme am Mindener Stadtbild verschafft ihm diverse Kontakte. Der Weg über das Writing zum Hip Hop, und von da zum Rap gilt als klassischer Werdegang. Lord Scan (der genau genommen ohnehin mit den Beats angefangen hat) tauscht die Sprühdosen allerdings nie gegen ein Mikrofon. Er bleibt bei seinen Kannen, nicht umsonst hat der Flashgott für das Mic eine zweite Hand eingeplant. "Von Hip Hop neu getauft" kommt es, wie es kommen muss. Erste Erfahrungen als MC und Freestyler sammelt Lord Scan mit 16 unter seinem Bühnennamen "Der Wortmutant".
"Alter, wie flashig war meine allererste Jam, damals, zusammen mit Mike / Dieses Hip Hop-Ding war noch neu, ich war hin und weg von dem Zeug." Maler, Breaker, Rapper ... Die Kleinstadt-Szene von Minden ist überschaubar. Man kennt und trifft sich. Italo Reno, Germany und Lord Scan formieren sich zum Klan. Den Durchbruch erlebt allerdings ein anderer: Besagter Mike, Curse nämlich, tauft Minden und den Rest der Nation mit "Feuerwasser".
Alte Weggefährten sind jedoch nicht vergessen: Scan liefert etliche Beats, darunter den zu "10 Rap Gesetze". Der Klan wird unter anderem in "Kaspaklatsche" und "Leavin' Las Vegas" gefeaturet und begleitet Curse auf dessen Tournee. Der "Chiefrocker"-EP auf Put Da Needle folgt im November 2000 das erste Klan-Album. Ganz klar: "'Flash Punks' ist mein Baby." Scan sorgt für die komplette Produktion und tobt sich in kompromisslosen Hardcore-Experimenten aus. Der Löwenanteil der Texte geht ebenfalls auf sein Konto. Deutschlands best producer on the mic? Möglicherweise.
"Flash Punks" bleibt das einzige Album des Klans. Dem Debüt folgen noch einige gemeinsame Auftritte, bevor persönliche und musikalische Differenzen dem Projekt ein Ende setzen. Scan ist frustriert, verlässt Minden und zieht nach Münster. Es vergeht Zeit: "Obwohl ich fast am Ende bin, vollzieh' ich doch den schwersten Schritt / Und akzeptier', dass was vergangen ist, in Scherben bricht." Viel Zeit: "Ich bereu' das Splitten nicht, ich denk', es ist okay so / Denn bevor mein Ego verendet, da lenk' ich es aus der Seenot."
Lord Scan widmet sich seinen Solo-Projekten. Die Tatsache, dass eine fertige Instrumental-LP mangels Interesse seitens der Plattenfirmen in der Schublade verschwindet, trägt nicht gerade zum allgemeinen Wohlbefinden bei. Gut, wenn man Grundsätze hat: "Ey, geh' deinen Weg, streng' dich an, hör' nicht auf / Wenn du glaubst, dass du's schaffst, zahlt sich's aus - irgendwann." Scan verbeißt sich noch stärker in sein Rap-Album-Projekt. "Ich sammel' jetzt herzhaft meine letzten Reserven Ehrgeiz und scheiß' drauf / Reiße mir beide Beine nur noch für meine eigene Scheibe raus."
Nein, ihn hat man wohl eher nicht mehr erwartet. Drastische Fehleinschätzung: Ende März 2006 tritt er mit seinem Solo-Debüt die Tür ein. "Es ist niemand mehr im Weg, und auch niemand, den ich brauch'." Multitalent und Perfektionist Scan behält, nach unerfreulichen Erfahrungen mit Labels, jetzt sämtliche Fäden in der Hand. "Ich schraub' 'n Beat, schreib' 'n Text - komplett alleine." Nur konsequent für einen Alleingang: "Ich Bins!" erscheint (inklusive aufwändiger grafischer Gestaltung) auf dem eigenen Label Schädelbasis Export.
Erzählerische Meisterleitungen und fetteste Synthiebeats machen aus irren Phantasien und autobiographischen Anekdoten gleichermaßen amtliche Kopfnicker. Die besorgte Frage "Was ist mit Hip Hop?!" tritt nach "Ich Bins!" wieder ein wenig in den Hintergrund. Hip Hop gehts prima, danke der Nachfrage.
Einer von vielen guten Gründen, der Aufforderung "Wählt Lord Scan!" nachzukommen. Für den schlimmsten Fall existiert bereits Plan B: "Hab' ich den Hip Hop satt, geht es ab in die Forschung, Mann!" Bis dahin haben alle Beteiligten offensichtlich noch etwas Zeit: "Von diesem Jungen werden wir noch mehr hören, und es wird nicht nur 'ne Postkarte sein."
... ein Album allerdings auch nicht. Statt dessen hebt Lord Scan in seiner Heimatstadt das "Hack & Lack"-Festival aus der Taufe: Irgendwie artet seine Geburtstagsparty, die er unter das Motto "Grillen & Lackieren" gestellt hat, zu einem jährlich wiederkehrenden Graffiti-Festival aus. Auch hierzu findet Lord Scan die passendsten Worte selbst: "Unsere Veranstaltung will das Kulturprogramm der Stadt Minden auf Dauer bereichern und die Kunst mit der Sprühdose interessierten Besuchern aller Altersgruppen näher bringen."
ALL GOOD lockt Lord Scan 2015 wieder einmal für ein ausführliches Interview aus der Reserve. "Deutschlands best producer on the mic" gibt dort offenherzig Auskunft, unter anderem über sein kompliziertes Verhältnis zu Curse, das Ende des Klans und seine Psychoprobleme infolge übermäßiger Kifferei.
Auch beim Podcast "All I See Is Blinkin Lights" erinnern sie sich - trotz nach wie vor ausbleibender Veröffentlichung - 2018 noch an den Deutschrap-Veteranen und bitten ihn für ein ausführliches Gespräch vors Mikrofon. Siehe: Lord Scan ist immer noch am Leben.
Wie ungebrochen er an alten Träumen festhält, zeigt sich zwischen den Jahren 2019 und 2020: "2001 war ursprünglich angedacht, die Instrumentale des 'Flashpunk'-Albums zu veröffentlichen", schreibt er. "Durch das Ende unseres damaligen Labels Put Da Needle To Da Records kam der Release aber leider nicht mehr zustande."
Da er die Beats für zu schade hält, um noch länger im Dornröschenschlaf in seiner Schublade zu verrotten, sicht er sich via Kickstarter-Kampagne Mitstreiter: "Um das zu schaffen, brauche ich finanzielle Unterstützung und würde mich riesig freuen, wenn es mit Eurer Hilfe doch noch gelingen sollte, die 'Flashpunks Innstrumänntlz' auf die Welt loszulassen." Die anvisierte Summe kommt mühelos zusammen. Im April 2020 ist seine im Verhältnis zu seiner Legende unangemessen schmale Diskografie demnach wenigstens um einen Posten reicher.
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