laut.de-Kritik
Jemand hat sich auf die rosarote Brille gesetzt.
Review von Hannes HußAm Anfang errötet Lucy Dacus. Die Songwriterin beschreibt in den ersten Zeilen auf "Home Video", wie ihr das im elterlichen Keller passiert ist. Obwohl ihre Jugend schon ein paar Jahre hinter ihr liegt, kehren die Unschuld, die Agonie, der Schmerz sofort in sie zurück. Daraus entfaltet sie über 45 Minuten hinweg ein Panorama einer Jugend mitsamt allen Wunden, schwitzigen Händen und Traumata, die bis heute fortwirken. "Knowing you / they'd be the first kid / to never hurt another", singt sie voller Zuneigung und unterdrücktem Schmerz. Die Vergangenheit bestimmt die Gegenwart, bestimmt die Zukunft.
Über der Vergangenheit liegt kein Sepia-Filter, auf die rosarote Brille hat sich jemand draufgesetzt. Dacus interessiert sich für alles, das typische Coming-Of-Age-Geschichten erzählen. Zettelchen im Unterricht, gerade noch zum Abendessen zu Hause sein, das erste Mal. Doch immer scheint sie zu schreien: "Pass auf, die Welt ist kein guter Ort!" "Going Going Gone" klingt wunderbar nach Country, frisch gemähtem Rasen und Seligkeit. Ihr Flirt mit "Daniel" wirkt unschuldig. Im Hintergrund singen ihre Boygenius-Kolleginnen Phoebe Bridgers und Julien Baker voller Sanftheit, während die Sonne malerisch untergeht.
Voll Detailfülle malt Dacus ihr Bild. "The sunset threw a tantrum / it wasn't ready to go just yet / Mother Earth said, time for bed / it resisted and the sky went red." Doch der Moment auf der Parkbank hält nicht ewig. Es scheint beinahe, als könne Dacus es nicht mehr aushalten. "Daniel in ten years / grabbing asses, spilling beers." Das Ende der Unschuld wird kommen.
"Cartwheel" handelt genau davon. Sanft, mit gedoppelter Stimme proklamiert die Sängerin: "The future isn't worth it's weight in gold / the future is a benevolent black hole." Nichts wird besser, die alten Versprechen am Telefon gelten in der Zukunft nicht mehr, aus gemeinsamem Altwerden werden Misstrauen und Kummer. Auch das christliche Sommerlager in "VBS" ist kein Sommer der blühenden Wiesen und Wasserschlachten. Es sind vier Minuten, in denen die Zukunftshoffnungen aus Dacus entweichen. Aus der ersten Zeile "In the summer of '07 / I was sure I'd go to heaven" machen schlechte Gedichte und Priester im T-Shirt ein resigniertes "but all it did / in the end / was make the dark feel / darker than before". Sogar die früher seltsamen Angewohnheiten der Eltern bekommen einen tieferen Sinn. Die stets bedeckten Arme des Vaters, das dicke Makeup der Mutter. Alles hat seinen Grund.
In "Thumbs" pochen die Wunden der Vergangenheit mit betäubender Intensität. Lange Zeit hat Dacus die zarte Ballade nur live gespielt, auf "Home Video" entfaltet sie ihre gesamte Wucht. Langsam schweben die 80s-Synthies, als wollten sie den Text nicht stören. Im Leben eines Freundes von Dacus taucht dessen lange abwesender Vater wieder auf. Dessen emotionaler Würgegriff ist präsent wie eh und je. "But for some reason / you can't tell him no." Die Stimme zittert, die Sängerin kann sich nur mühsam beherrschen. "I would kill him / if you let me", schwört sie, während sich die Fingernägel ihres Freundes in ihr Knie bohren.
Immer wieder übermannt "Home Video" eine emotionale Wucht ungeahnter Größe. "Partner In Crime" bettelt um die Aufmerksamkeit einer Person, verstellt sich selbst, unterdrückt die eigenen Gefühle. "You drop a hint that you got a girlfriend / I try my best not to take it", singt Dacus mit künstlich verzerrter Stimme. Beinahe wirkt die Stimmmodulation wie ein Schutzmechanismus vor den dunklen Gefühlen des Songs. Das langsame, druckvolle Schlagzeug treibt das Lied nach vorne, unbarmherzig jagt es die Zuhörer*innen und Dacus immer weiter in die Schmerzen hinein. Alles wirkt wie die fürchterlichste Nacht im Leben eines Person. Der Nacht, in der das Herz bricht und Dacus wie in ihrem Meisterwerk "Night Shift" orientierungslos und verletzt durch die Straßen der Stadt läuft, unfähig, den Schmerz zu ertragen. Erst in den sägenden Gitarren des Outros findet sie so etwas wie Ruhe.
Nur selten gönnt sich Lucy Dacus Leichtigkeit. "Brando" ist beseelt von Powerpop, trabt locker nach vorne, wie schon Dacus' fantastisches Cover von "Last Christmas". Auch inhaltlich bleibt das Thema kleiner. Hier bereitet sie keine Traumata auf, verarztet keine Fleischwunden. Stattdessen geht es um überhebliche Jungs, die sich ihre perfekte Freundin zusammenträumen und irgendein armes Mädchen in dieser Rolle casten. Der anfangs liebenswürdige Filmnerd, der Fred Astaire und "Casablanca" mag, sieht in Lucy nur eine Projektionsfläche und meint überheblich, sie sei glücklich, würde sie seine dritte Frau werden. Schlussendlich ist es ihr egal, die Wunde ist schon beinahe verheilt. Ihre einzige Forderung: "All I need for you to admit / is that you never knew me like you thought you did."
Ganz zum Schluss zielt das monumentale "Triple Dog Dare" auf die Magengrube. Ganz, ganz behutsam baut sich der Track auf. Die Gitarre zirkuliert um ein sanftes Riff, das Klavier liegt schwer und dröhnend unter dem Gesang. Sofort zieht das Unheil am Horizont auf. Dacus singt mit Kloß im Hals, schöne Erinnerungen wie Jukebox-Tanzen um Mitternacht sind kam zu erkennen vor lauter Tränen. Immer mehr baut sich auf, wie ein Gewitter den Himmel verdunkelt, zieht sich der Song zusammen.
Die junge Liebe sei verflucht, meint ihre Freundin, ihre Mutter liest in Dacus' Hand das kommende Unglück. Die Gitarre zieht an, übernimmt Rockrhythmen, wie Herzschläge ziehen sich ihre Noten durch den Song. Es werden Pläne geschmiedet, wegzurennen, auf einem Boot zu leben. Die Gitarre verzehrt sich, Dacus' Stimme verzieht sich, das Wegrennen als titelgebende, ultimative "Triple Dog Dare"-Wette. Der Magen dreht sich um, im Hintergrund singen wieder Bridgers und Baker, wie benommen, immer wieder und wieder: "Triple dog dare / triple dog dare." Endlich entlädt sich die Gitarre wie ein Blitz, gibt der Sonne eine winzigen Fleck. Das Unvermeidbare ist eingetreten und Lucy ist übriggeblieben. "Your mama was right, and through the grief / can't fight the feeling of relief / nothing worse could happen now."
6 Kommentare mit 4 Antworten
Was für wunderschöne Musik von Lucy Dacus mir gefallen eigentlich alle Lieder aber Hot & Heavy, VBS, Thumbs, Going Going Gone, Brando und Triple Dog Dare sind meine Highlights.
Vielleicht brauchen manche für die Musik ???? ein paar Hördurchgänge aber irgendwann entfaltet sich die Musik ????.
Ach ja ????
Könnte ich mir durchaus vorstellen ????
Ist das ne Frage oder eine Hypothese ????
Ja !!!!
ist bestellt!
Es geschehen noch Zeichen und Wunder, Laut.de stellt Musik vor die richtig gut ist. Wahnsinn!
Keine Ahnung wo die Brille her ist - ich halte das für Schrott
Gewinnt mit jedem neuen Hören. Ein sehr gutes Album. Favoriten: VBS, Cartwheel, Going going gone, Triple dog care. Ich gebe *****.