laut.de-Kritik

Mit Anspruch, Party-Jam und Sozialkritik heilt er die Wunden.

Review von

Hip Hop ist Ende der 90er nicht tot, aber schwer verletzt. Eine blutige Fehde zwischen New York und der Westcoast eskalierte ein paar Jahre zuvor und fordert auf dem Höhepunkt zwei prominente Tote: Tupac und Biggie, enorm talentierte junge Künstler, die gerade erst am Anfang ihrer Legacy standen und den Fehler machten, sich auf diese kindische Gang-Rivalität einzulassen. Nach diesen Exzessen möchte keiner mehr hasserfüllte Disses und weitere unnötige Opfer. Sean "Puff Daddy" Combs, der selber eine nicht unbedeutende Rolle in diesem Beef einnimmt, erkennt früh den Wunsch nach einem freundlicheren Sound und treibt die Kommerzialisierung von Hip Hop mit glatt gebügelten Pop-Produktionen auf ein neues Level. Doch führt seine ehrgeizige Vision über die Zukunft des Game zu einer neuen Spaltung, die auch ohne Gewalt einen Graben reißt.

Junge Underground-Künstler wie Mos Def sehen sich nicht in den sündhaft teuren Musikvideos. Er wächst in den wenig schönen Hinterzimmern von Brooklyn auf, seine musikalische Sozialisation und Erziehung erfolgt im Dunstkreis der Native Tongues. Das lose Künstler-Kollektiv hatte sich bereits Ende der 80er um Artists wie A Tribe Called Quest und De La Soul gebildet. Der kulturelle Austausch und die Vermittlung von Wissen über schwarze Geschichte sind ihnen wichtiger als Gangsta-Posen oder das Propagieren eines hedonistischen Lifestyle.

Mos Def, das junge Wunderkind des New Yorker Underground, sorgt bereits 1998 gemeinsam mit Talib Kweli als Black Star für Aufmerksamkeit und gilt als die neue Hoffnung und das größte Ding seit Nas und seinem Debüt "Illmatic". Großer Druck und eine riesige Erwartung liegen auf seinen Schultern. Ganz allein muss er zum Glück die Last nicht tragen, ihm zur Seite stehen aufstrebende Produzenten und ein Altmeister wie DJ Premier.

Was er selber über den Status von Hip Hop denkt, wird klar, als im Oktober 1999 endlich sein Debüt "Black On Both Sides" erscheint und der Opener "Fear Not A Man" den fragilen Zustand des Genres zusammen fasst. Auf die Frage, wie es denn nun mit Hip Hop am der 90er aussieht, antwortet er präzise "You know what's gonna happen with Hip-Hop? If we smoked out, Hip-Hop is gonna be smoked out / If we doin alright, Hip-Hop is gonna be doin alright". Die musikalische Spannbreite reicht von Fela Kuti bis zu deutschen Krautrock. Am Ende stehen 699 Wörter und die Ansage an die weltweite Hip Hop-Kultur: Beschwer dich nicht, du bist selber Teil der Kultur und kannst sie mit deinem Empowerment zu einem besseren Ort machen. Kluge Ansichten aus dem Mund eines Kids, das schon wie ein Alter spricht. Each one, teach one. Seine Ziehväter wie Q-Tip könnten nicht stolzer sein.

Die Weisheit des Wortes und dessen Einsatz als Waffe hat Mos Def schon früh in der "Lyricist Lounge" gelernt, einer New Yorker Open Mic-Veranstaltung, aus der auch wortgewandte Slam Poetry-Talente wie Saul Williams hervor gingen. So ausgebildet und reif wie seine Wörter ist auch sein politisches Bewusstsein. In dem unfassbar smoothen Jazz-Hip Hop von "UMI says" stellt er klar: "Put my heart and soul into this / I hope you feel me/ From where I am, to wherever you are / I mean that sincerely" um in Trance folgendem Satz in der Bridge "All black people to be free / That's all that matters to me" wie ein Gebet zu wiederholen. Immer und immer wieder, als ob all die gequälten Seelen aus Sklaverei und Unterdrückung in seinen Körper fahren und durch seinen Mund den Weg in die Freiheit finden.

Auch die kulturelle Aneignung der Weißen missfällt ihm. "I said, Elvis Presley ain't got no soul Chuck Berry is rock and roll/You may dig on the Rolling Stones / But they ain't come up with that style on they own" stellt Mos Def in "Rock N Roll" klar. In einem seltenen Ausbruch auf dem sonst so entspannten Album brüllt er plötzlich zum Ende in bester New Yorker Hardcore-Marnier "All towns get your punk ass up" ins Mikro. Eine "Übrigens, euren Hardcore haben wir mit den Bad Brains auch maßgeblich beeinflusst"-Aussage mit viel Wucht dahinter und doch eine Ausnahme auf dem sonst so homogenen Album.

Wie in den frühen Jams in Brooklyn gehen seine Songs fast ohne Tempi-Wechsel ineinander über und schaffen auch musikalisch ein homogene Atmosphäre in diesem Konzeptalbum über schwarze Identität. Das Gehirn rotiert, der Kopf nickt nahezu pausenlos zu der dynamischen Fusion aus Jazz, Funk und allem, was Black Music ausmacht. Viele Songs werden live eingespielt, was jegliche Künstlichkeit vertreibt und dank klassischer Musikinstrumente wie Fender Rhodes zu einem warmen Analog-Sound beiträgt. Ein Höhepunkt ist "Mr. Nigga", das vor Energie explodiert und sich wie eine Live-Aufnahme eines Funkadelic-Konzert anfühlt. Ob am Ende der Schweiß oder die Tränen über das Rassismus-Thema über das Gesicht laufen, ist in diesem ekstatischen Moment auch egal.

Hip Hop war 1999 verwundet und orientierungslos, aber mit "Black On Both Sides" startete Mos Def den Heilungsprozess, dem viele andere Rapper der Conscious-Rap-Szene folgten. Eines davon ist ein Kid von der Westcoast, das dieses Album immer wieder aufmerksam in seinem Zimmer hört und Jahre später mit "To Pimp A Butterfly" praktisch den Nachfolger und den Spagat zwischen Anspruch, Party-Jam und Sozialkritik wie sein großes Vorbild schafft.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Fear Not Of Man
  2. 2. Hip Hop
  3. 3. Love
  4. 4. Ms. Fat Booty
  5. 5. Speed Law
  6. 6. Do It Now!
  7. 7. Got
  8. 8. Umi Says
  9. 9. New World Water
  10. 10. Rock N Roll
  11. 11. Know That
  12. 12. Climb
  13. 13. Brooklyn
  14. 14. Habitat
  15. 15. Mr. Nigga
  16. 16. Mathematics
  17. 17. May–December

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