laut.de-Kritik

Ohne Umweg ins Wohlfühlzentrum.

Review von

Getreu dem Cover-Artwork haut Neal Morse wie von der Hand Gottes gelenkt eine Platte nach der anderen in den Orkus. Nach Transatlantic, der Soloplatte "Songs From November" und dem Allstar-Projekt Flying Colors ist "The Grand Experiment" bereits der vierte Output innerhalb eines Jahres. Feste Bindungen in einem kreativen Netzwerk aus Musikern ergeben einen aus Morses Sicht perfekten Kosmos, man denke nur das zweitägige Morsefest, das im November 2014 viele Neoprog-Jünger nach Nashville pendeln ließ.

Die dezente Variations-Kunst, die dabei entsteht, könnte man mit dem Slogan Wohlfühlprog umschreiben. Natürlich folgt jeder Musiker seinen Gewohnheiten und pflegt seine gewohnten Akkorde, Sounds, Instrumente und Strukturen in die Songs ein. Diese sind schon aufgrund der Bindung an ein quantisiertes, zwölf Töne umfassendes Notationssystem limitiert. Die Nische, in der sich Morse eingenistet hat, hat jedoch den Vorteil, dass der Neoprog-Meister im Prinzip veröffentlichen kann, was er will - wie ein Angus Young des Prog. Wirklich Schlechtes kommt dabei nicht raus.

Vor allem aus zwei Gründen hat "The Grand Experiment" mehr Pepp als die letzten Platten. Das große Experiment, von dem der Titel kündet, ohne jede Songidee den Proberaum zu entern, drauflos zu jammen und den Mietmusikern (u.a. Mike Portnoy) mehr Freiräume zu geben, funktioniert, und die für die 2012 Tour gecasteten Musiker Eric Gilette (Git) und Bill Hubauer (Keys) bringen frischen Wind in die Segel des ollen Morseschen Dampfers und fügen sich mit ihren Stimmen perfekt in die gewohnt famosen Satzgesänge ein.

Zudem macht Morse nicht den Fehler, sich in orgiastischen Tonfolgen in Lichtgeschwindigkeit zu ergehen und den Hörer zu kasteien, sondern umschmeichelt diesen mit weltumspannenden Melodien, die seinen jubilierenden Gefühlen mit einer großen Innerlichkeit Ausdruck verleihen. Die vereinzelt eingestreuten Schattenseiten sind nur kurze Niederung auf dem Weg zum Gipfel. Dieses stete Wechselspiel aus Illumination und Desillusion lässt den halbstündigen Longtrack "Alive Again" zu einem kurzweiligen Hörvergnügen werden.

"Following The Call" reißt direkt mit, versprüht positive Energie irgendwo zwischen Sesamstraße und Beatles. Der Titeltrack punktet mit bluesigen Heavyrock-Riffs. In "Waterfall" perlen die folkige Instrumentierung mit Akustik-Gitarre und Klaviertupfern sowie die in bester amerikanischer Tradition dargebotenen Satzgesänge den Hörgang hinunter, ohne Umschweife in Richtung Wohlfühlzentrum. Der einzig wirklich Schwachpunkt lautet "Agenda". Dieser Song hätte vielleicht in den Neunzigern juvenil gewirkt, steht jedoch dem Mitfünfziger nicht gut zu Gesicht.

"The Grand Experiment" ist sicherlich nicht der große Wurf in der an Highlights reichen Diskografie von Morse geworden, lebendiger als die Veröffentlichungen seit "The Whirlwind" klingts allemal.

Trackliste

  1. 1. The Call
  2. 2. The Grand Experiment
  3. 3. Waterfall
  4. 4. Agenda
  5. 5. Alive Again

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