laut.de-Kritik

Wie dafür geschaffen, sich durchs Leben tragen zu lassen.

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"Herzeleid" bildete lediglich die Ouvertüre, ein Kratzen am künstlerischen und kommerziellen Potenzial Rammsteins. "Wir wollten uns nicht wiederholen, aber hieß das, alle gewonnenen Erkenntnisse über den Haufen zu werfen?", berichtet Flake in seinen Memoiren "Heute hat die Welt Geburtstag" von Selbstzweifeln des Sextetts nach dem Debüt, "War unsere Musik nicht gut, genau so, wie wir sie spielten? Was war überhaupt unsere Musik?" Auf "Sehnsucht" zivilisierten sie ihre Tabuthemen zum Sound der Neuen Deutschen Härte nur eine Spur, jedoch entscheidend für den Massenmarkt.

Dabei gestaltete sich die Produktion knifflig. Umgeben von großstädtischer Ablenkung fiel es ihnen schwer, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Sie suchten nach einem Refugium, um sich ganz dem kreativen Prozess zu widmen. "Wir kamen auf das Haus von Rio Reiser, weil das schon wie ein Studio eingerichtet war", erinnert sich Flake, "Er hatte keinerlei Berührungsängste mit uns, andere Musiker sahen uns schon immer klarer als irgendwelche verklemmte Journalisten." Doch der frühe Tode des Ton Steine Scherben-Frontmanns im Sommer 1996 durchkreuzte die Pläne der Berliner.

Nachdem ein alternativ ausgewähltes ehemaliges DDR-Schulungsheim zum Party-Treffpunkt verkommen war, zog es Rammstein nach Malta. In den dortigen Temple Studios arbeiteten sie mit dem schwedischen Produzenten Jacob Hellner an ihrem Zweitling. Gottfried Helnwein wiederum übernahm die visuelle Gestaltung. Wie schon bei seiner Arbeit für "Blackout" von den Scorpions versah er die Bandmitglieder für sechs verschiedene Cover mit medizinischen Instrumenten des Prothesenentwicklers Ferdinand Sauerbruch, der etwa den versehrten Graf von Stauffenberg behandelt hatte.

Neben den eindrücklichen Pressefotos kreierten Rammstein mit dem ersten Musikvideo zu "Engel" einen weiteren Hingucker. In der Hamburger Prinzenbar spielten sie die ikonische Schlangentanz-Szene von Salma Hayek aus "From Dusk Till Dawn" nach. Die Band erkor Flake aus, die Rolle Quentin Tarantinos zu übernehmen. An den Zehen der Tänzerin lutschend ließ er sich Whisky über ihr Bein in den Mund gießen. "Ich fand das sehr merkwürdig, aber machte natürlich mit, weil ich die Dreharbeiten nicht aufhalten wollte", blickt der Keyboarder später arglos auf die intime Sequenz zurück.

Für MTV überschritt die Melange aus Fußfetisch und Flammenwerfer zu viele Grenzen. Der Sender verweigerte die Ausstrahlung. Doch selbst ohne förderliche Scharmützel schien "Engel" unaufhaltsam. Das rabiate Gitarrenriff trifft auf ein charakteristisch melancholisches Pfeifen. "Wer zu Lebzeit' gut auf Erden, wird nach dem Tod ein Engel werden", bringt Lindemann das freilich zu große Opfer auf den Punkt. Weshalb sollten sie sich auch diesen bemitleidenswerten Kreaturen anschließen? "Wir haben Angst und sind allein", wimmert Christiane Herbold aus der Perspektive der furchtsamen Himmelsbotin.

Ähnlich schlug die zweite Auskopplung "Du Hast" ein, die 25 Jahre später noch immer einen festen Platz bei den Live-Shows einnimmt - obwohl das Publikum dem Song einigermaßen ratlos gegenübersteht. "Die meisten von ihnen wissen sicherlich überhaupt nicht, worum es in diesem Lied geht. Ich selbst habe ja schon Schwierigkeiten damit", gesteht etwa Flake. Dennoch handele es sich bei dem äußerst eingängigen Song rund um einen entschieden abgelehnten Treueschwur, der sich auf den Gleichklang von "Du hast" und "Du hasst" stützt, um "so etwas wie unser 'Satisfaction'."

Mit zwei zündenden Singles im Rücken erschien "Sehnsucht" im August 1997. Rammstein nahmen sich den von der Deutschen Romantik bis zum modernen Schlager positiv konnotierten Begriff, um ihn in sein Gegenteil zu verkehren. Im eröffnenden Titelsong breitet sich ein Nebelteppich aus, über den dann die Gitarren galoppieren. "Sehnsucht versteckt sich wie ein Insekt. Im Schlaf merkst du nicht, dass es dich sticht", stimmt Lindemann sein mit Metaphern gespicktes Klagelied an, das sich nach dem erloschenen Gefühl der Leidenschaft verzehrt. "Sehnsucht ist so grausam!"

Animalisch geht es auch im inzestuösen "Tier" zu. "Er wird zu seiner Tochter gehen. Sie ist schön und jung an Jahren. Und dann wird er wie ein Hund mit eigenem Fleisch und Blut sich paaren", schildert er stumpf den familiären Kindesmissbrauch, für den sich das später erwachsene Mädchen in der zweiten Strophe an ihrem Vater blutig rächt. "Spiel Mit Mir" wiederum beleuchtet den sexuellen Missbrauch zwischen zwei Brüdern. "Brüderlein komm, fass mich an. Rutsch ganz dicht an mich heran", nähert sich das lyrische Ich der zum Spiel verklärten Tat, während die Synthies dazu vorwärts tapsen.

Neben familiärer Unzucht geben Rammstein dem ebenfalls wenig massentauglichen Thema Sadomasochismus Raum. "Bestrafe Mich" nimmt die Sklavensicht ein und überträgt sie in einen religiösen Kontext, in dem der Erzähler seine Hörigkeit vor Gott betont. "Bück Dich" wechselt wiederum in die Masterposition: "'Bück dich!', befehl' ich dir. Wende dein Antlitz ab von mir!" Mit schepperndem Metall in der Werkstatt, peitschenden Soundeffekten und rauschhaftem Hecheln lässt die Band das Wechselspiel aus Dominanz und Unterwürfigkeit auch musikalisch nachvollziehen.

"Ein Zweibeiner auf allen Vieren. Ich führe ihn spazieren. Im Passgang den Flur entlang", erfreut sich der Frontmann in "Bück Dich" an seinem zum Haustier abgewerteten Gegenüber. Vor allem die US-Amerikaner reagierten pikiert, als Till Lindemann einmal mit Penisattrappe seinen Keyboarder-Kollegen an der Hundeleine auf die Bühne in Worcester führte und Analsex imitierte. Beide fanden sich kurz darauf im Gefängnis wieder und erhielten eine Geldstrafe sowie sechs Monate auf Bewährung. Bis heute erschwert ihnen ihre Vorstrafe die Einreise in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

Drastisch kocht auch die "Eifersucht". Mit militärischer Disziplin marschieren die Gitarren zu den dargebotenen Rachefantasien aus Neid. "Bin ich klüger, töte mich und iss mein Hirn", streift dabei deutlich den später mit "Mein Teil" noch prominent umgesetzten Kannibalismus, "Iss mich ganz auf, doch leck den Teller ab." Weniger skandalträchtig dreht sich "Alter Mann" um Sterblichkeit, was Flake mit einem Tropfen-Sample begleitet. Und am "Klavier" erfolgt ein Mord aus Leidenschaft, wie es die Boulevard-Presse nennt, oder - politisch korrekt formuliert - ein Femizid an der Geliebten.

Was Rammstein hingegen nur in kleinen Dosen aufbieten, ist ihr typischer Humor. Als Band, die stets in die Tiefen des Es abtaucht, fällt dieser sinnigerweise pubertär aus. Einzig mit "Küss Mich" trauen sie sich auf "Sehnsucht" an etwas Entlastung. "Gefangen in der Finsternis sieht sie nie das Licht der Sonne. Vor Geilheit zuckend fleht sie dann die Zunge in dem Manne an - küss mich!", geben sie sich wenig subtil dem Cunnilingus hin, torpedieren den triebhaften Ernst aber mit albernen Sprachwitzen und cartoonesken Sounds aus dem Universum der Looney Tunes.

Auf späteren Alben ziehen sie unbefangener die Notbremse, wenn sie Gefahr laufen, sich im Pathos zu verlieren. Mit dem schwermütigen "Zeit" haderten sie auf ihrem achten Album mit der eigenen Vergänglichkeit, um darauf die Groteske "Zick Zack" anzuschließen. Eben ging es noch um die engherzige "Angst" des Bürgertums und schon folgt ein Lobgesang auf "Dicke Titten". Immer wieder durchbrechen sie die brachiale Fassade, indem sie auf der Bühne Zärtlichkeiten austauschen oder Flake wie einen Fremdkörper inszenieren, der allein durch seine Anwesenheit die Ernsthaftigkeit abfedert.

Nach ihren Konzerten sehnten sich bald selbst die Amerikaner. Mit Unterstützung des Lichtkünstlers Gert Hof kreierten sie eine Live-Show, mit der sie im Dezember 1997 erstmals zu einer US-Tournee aufbrachen. Ihre maschinelle Strenge und das rollende 'R' entsprachen wohl dem teutonischen Klischeebild, das so nur in der Fantasie existiert. In den folgenden Jahren nahmen sie die Rolle des deutschen Aushängeschildes für sich an und bedienten sich in ihren Songs bewusst am hiesigen kulturellen Schatz, der von Märchenerzählungen über Brecht und Goethe bis zu Kraftwerk und Scooter reicht.

"Es war ein Gefühl, das ich bei den vorherigen Punkbands nie verspürt hatte, da im Punk das Versagen ja eigentlich schon drinsteckt", grenzt Flake seine Aufregung vor den Rammstein-Shows von den Auftritten mit seiner vorherigen Band Feeling B ab. Mit "Sehnsucht" hielt endgültig der Erfolg Einzug. "Wenn Jugendliche erwachsen werden, entscheidet oft ein kleiner Zufall, welche Musik sie während dieser Zeit hören und welche Richtung daraufhin ihr Leben nimmt", resümiert Flake das Phänomen, "Und diese Musik war wie dafür geschaffen, aufzuspringen und sich durchs Leben tragen zu lassen."

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Sehnsucht
  2. 2. Engel
  3. 3. Tier
  4. 4. Bestrafe mich
  5. 5. Du Hast
  6. 6. Bück Dich
  7. 7. Spiel mit mir
  8. 8. Klavier
  9. 9. Alter Mann
  10. 10. Eifersucht
  11. 11. Küss Mich

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