laut.de-Kritik

I Did It Mey Way!

Review von

Ein Leben in Liedern: Über 45 Jahre Bühnenkarriere als Musiker schreien geradezu nach einer erschöpfenden Werkschau. Nun kredenzt uns Reinhard Mey mit "Jahreszeiten" eine quantitativ wie qualitativ üppige Gesamtausgabe. Alle 26 Studio-Platten plus Bonusmaterial ohne Ende brechen wie ein Füllhorn über den Hörer herein.

Keine Wünsche bleiben offen, das Material lohnt sich beträchtlich. Der Berliner war und ist nie Schlagerbarde oder Klischee-Folkie gewesen, erst recht kein Oberlehrer. Die Gabe des ebenso gnadenlosen wie liebevollen Beobachters indes hat er anscheinend schon als ganz junger Mann mit der Muttermilch aufgesogen. Auch der Hang zu echter Poesie, eleganter Wortakrobatik und Selbstreflexion ist von Anfang an hoch entwickelt. Ob man nun ein frühes Album auswählt oder ein spätes: Alles ist und bleibt unverkennbar. Motto: "I Did It Mey Way!"

Damit gelingt dem großen Musiker etwas in Deutschland Einmaliges. Meys Mucke taugt gleichzeitig als echtes bundesrepublikanisches Sittengemälde und Befindlichkeitsgradmesser der deutschen Gesellschaft. So erhält jede Dekade ihre eigene Geschichte mit Mey als deutschem Chronisten. Gleichzeitig bringt er es fertig, immer auch dem allzu Menschlichen und rein Privaten ein detailfreudiges Denkmal zu setzen. Beide unterschiedlichen Liedsorten fließen auf nahezu jeder LP ganz und gar harmonisch ineinander, ohne dass der Kontrast dem Hörer bewusst würde.

Der rote Faden durch Hunderte von Liedern ist künstlerisch gar nicht hoch genug einzuschätzen. Nur Zufall ist es nicht. Dem zweisprachigen, komplett frankophonen Wilmersdorfer standen der Chanson im allgemeinen und Aznavour, Vian oder Brel schon immer näher als die angloamerikanische Singer/Songwriterschule à la Dylan und Co. Nicht umsonst veröffentlicht er als umjubelter Chansonnier mehrere Alben mit französischen Tracks unter dem Namen Frédérik Mey, größtenteils Übersetzungen deutscher Vorlagen aus diesem Boxset. Und wenn Paris mal einen Germanen aus der urpreußischen Pickelhaubenhauptstadt ins pulsierende Herz schließt, muss da schon was ganz Besonderes dran sein.

Das Monumentale dieser Plattensammlung wird besonders daran deutlich, dass der mittlerweile über 70-Jährige in fast unser aller Leben immer schon da war. Als sein Debüt - der unbedingte LP-Anspieltipp "Ich Wollte Wie Orpheus Singen" 1967 erschien, steckte fast die gesamte Popmusikkultur noch in den Kinderschuhen. Die Beatles erschufen gerade "Sgt. Pepper's", Leonard Cohen, Jimi Hendrix, Velvet Underground oder die Doors waren ebenfalls gerade mit ihren Erstlingen am Start. Schon hier befinden sich Patina resistente Kleinode für die Ewigkeit ("Novemberlied", "Abscheuliches Lied Für Abscheuliche Leute", "Von Heiligen Kriegen").

Selbstredend fehlt auch das unvermeidliche "Über Den Wolken" ("Wie Vor Jahr Und Tag", 1974) nicht. Es ist das Lied von ihm, dass wirklich jedes Kind und jeder Greis kennt. Obwohl der heimische Dudelfunk es seit vierzig jahren geradezu inflationär in Endlosschleife bringt, ist die emotionale Schönheit des Arrangements samt der sich im Text offenbarenden Philosophie noch immer präsent und bleibt unauslöschlich. Eine Qualität, die sich hier stellvertretend zeigt und besonders in all seinen Balladen über die Jahre deutlich hervorsticht.

Wie bei allen großen Dichtern findet man auch bei Reinhard Mey wiederkehrende, sehr persönliche Motive. Am Hervorstechendsten ist hier seine oft vertonte Leidenschaft für die Nordsee. Diese Zuneigung äußert er als Texter in außergewöhnlichen, geradezu hanebüchen andersartigen Zeilen. Bei ihm ist es nicht der große, allgemeine Hymnengesang als Hommage, wie im Popbiz üblich. Stattdessen streut er nebenbei Zeilen in Tracks ein, die man als knappe Andeutungen fast überhören könnte, wären sie nicht so dokumentarisch und höchstpersönlich.

In "Ich Wollte Immer Mal Nach Barbados" ("Hergestellt in Berlin", 1985) stranded er natürlich auf seinem damaligen Favoriten Baltrum: "Statt Rum zu trinken, häng' ich halt rum im Friesennerz auf Baltrum." Und in "Ich Grüße..." geht er dann weiter und spricht von realen Personen, die samt Familie noch immer dort leben: "Ich grüße Frau Wietjes auf Baltrum!" ("Hergestellt in Berlin", 1985).

Kreative Altersschwäche ist Mey fremd. Auch das Spätwerk ist voller Diamanten. Hier möchte ich ganz besonders auf die 2007er Scheibe "Bunter Hund" hinweisen. Wenn der Sänger im famosen Titelsong mit Zeilen loslegt: "Ich komme aus einem Wurf von Krokodilen / Ich tue was, keine Angst, ich will nicht nur spielen / Ich bin der Streuner, der aus jeder Pfütze trinkt / Der den Knochen ausgräbt, der zum Himmel stinkt / Aber solltest du dich trotzdem für mich entscheiden / Dann lass' ich mich für dich in Streifen schneiden", dann ist er fast bei der Bittersüße eines Tom Waits.

Wer nach dem Genuss der regulären Studioalben noch Hunger verspürt, dem winkt neben der gelungenen DVD als Dreingabe auch eine tolle CD mit Coverversionen. Hier interpretiert er unter anderem kongenial Rio Reisers ewige Granatenballade "Zauberland" oder Dalidas "Que Sont Devenues Les Fleurs".

Trackliste

CD 1: Ich Wollte Wie Orpheus Singen

CD 2: Ankomme Freitag, Den 13.

CD 3: Aus Meinem Tagebuch

CD 4: Ich Bin Aus Jenem Holze

CD 5: Mein Achtel Lorbeerblatt

CD 6: Wie Vor Jahr Und Tag

CD 7: Ikarus

CD 8: 3Menschenjunges

CD 9: Keine Ruhige Minute

CD 10: Jahreszeiten

CD 11: Freundliche Gesichter

CD 12: Die Zwölfte

CD 13: Hergestellt In Berlin

CD 14: Alleingang

CD 15: Balladen

CD 16: Farben

CD 17: Alles Geht

CD 18: Immer Weiter

CD 19: Leuchtfeuer

CD 20: Flaschenpost

CD 21: Einhandsegler

CD 22: Rüm Hart

CD 23: Nanga Parbat

CD 24: Bunter Hund

CD 25: Mairegen

CD 26: Dann Mach's Gut

CD 27: Cover

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