laut.de-Kritik
Santigold erfindet sich neu.
Review von Franz MauererCooler als Santigold zu sein, das ist schon eine ganze Weile ziemlich schwierig. Seit einigen Jahren hatte sich die Philadelphiaerin in einem coolen, musikalisch stets leicht poppig-übersteuerten laid-back-Eck eingerichtet, mit den ähnlich begabten ILOVEMAKONNEN und Earl Sweatshirt. Alles schien und glänzte und war bewundernswert leicht aussehend - damit ist jetzt Schluss: "Spirituals" schabt Fleisch und Fett vom Knochen, dass es nur so spritzt. Der Name legt nahe, wie Santigold auf diesem Album vorgeht. Alles will hart erkämpft werden, Düsternis und der Kampf um Selbstermächtigung stehen im textlichen Fokus.
Am Spirituellen und am Ritus besteht dabei kein Mangel: "High Priestess" verlegt den Tempel in den Club, gönnt dem Hörer aber keinen Break, keine Belohnung. Textlich ist auch Santi White nicht gefeit vor der eindimensionalen, sich aufs Gegenüber fixierenden Art von Selbstermächtigung, von der Beyoncé so oft träumt ("Hey pretty / Awww, you really want my thunder / I guard the gates here / Guard the secrets while you wonder"). Aber selbst eine Taylor-Hommage wie "Shake" artet bei Santigold in entschlossenem Überlebenskampf aus ("Let it buck and ride it / Level out that thing / It might take you down / You'll rise back up if you just shake"), weshalb man ihr manche sprachliche Plattitüde gern verzeiht.
Die fetten und doch musikalisch im Vergleich zu früheren Werken deutlich reduzierten Beats erinnern sogar ein Stück weit an "Renaissance", nur biegt Santigold auf "Spirituals" zuverlässig Richtung Grimes ab oder macht dem Song einfach ein Ende, bevor er allzu erlösend ausfällt. Nicht nur dieser Aspekt erinnert an Beth Gibbons, Whites Stimme spielt auf dieser Platte ein deutlich größere Rolle durch den Lärm, der anders als früher an so vielen Stellen weggelassen wurde.
Santigold entdeckt auf "Sprituals" trotz einer ganzen Heerschar von Produzenten und Co-Autoren - darunter so unterschiedliche wie Alex Ridha, der von ihr schon bekannte Rostam oder SBTRKT - die Stärke von Pausen und Leerstellen. Ihrer leicht krächzenden, charakteristischen Stimme scheint sie viel mehr als früher zu vertrauen und sie viel höher zu schrauben; eine gute Entscheidung. Denn vom treibenden "No Paradise" über das schmachtende "The Lasty" bis zum hysterischen "Ain't Ready" wird schnell klar, dass Santi mit ihrem Organ schlicht alles kann.
Das Genre von "Spirituals" pendelt irgendwo zwischen modernem R'n'B, Dancehall und scheuklappenfreiem Eklektizismus. Jeder Song fällt komplett unterschiedlich, sofort wiedererkennbar und kohärent aus, sei es die zuckersüße Horrorvision "My Horror" ("It's my life, I'm inside but / I'm outside it like a passenger") oder die kühle, tropfende Abneigungshymne "Nothing", die einen schlagartig in den Keller versetzt. Zur Mitte hin folgen die Pop-Fingerübung "Witness" und die federleichte und doch schmierige Anbetung von "Ushers Of The New World". "Shake" erinnert musikalisch an "36 Hours" in seiner stoischen Entschlossenheit, "The Lasty" ist die avantgardistische Klavier-Ballade, an der alle Eilish-Nachahmer (und Billie Eilish) regelmäßig scheitern.
"No Paradise" streckt die Fühler nach dem 2018er Afro-Mixtape "I Don’t Want: The Gold Fire Sessions" aus und referiert damit zum erstem Mal wahrnehmbar auf eine frühere Version von Santigold. Da merkt man, auf die hat man gar keine Lust mehr, denn die neue Santigold ist viel geiler. Man traut sich fast wetten, dass dieser eigentlich völlig solide Song von den Sessions zum Mixtape über blieb, ihm fehlt die Kraft und der Fatalismus der anderen, knackigen, skelettierten Songs, zeigt aber umso nachdrücklicher, wie hervorragend das distinktive Songwriting von "Sprituals" ausfällt.
"Fall First" ist schwer zu beschreiben und ein würdiger Abschluss für diesen Leviathan moderner Musik - ein Art tropischer Dance-Doom, eine papuanische Sleep-Cover-Band würde sich vielleicht so anhören. Unschwer zu erkennen, dass das hier das Albumhighlight ist. Das sind aber fast alle Songs auf "Spirituals", neben "Renaissance" und "Hypnos" der R'n'B-Höhepunkt mindestens dieses Jahres.
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