laut.de-Kritik
19 Lieder aus Feuer und Eis.
Review von Ulf Kubanke"Was ist Europa? Wie verstehen wir es? Wie sehen es andere? Und was ist von dem großen humanistischen Entwurf übrig geblieben, der nach zwei furchtbaren Kriegen als Idee der Grenzüberschreitung, des Friedens und der Toleranz in die Welt getreten ist?"
Heinz Ratz stellt jene bohrenden, berechtigten Fragen, die viele Europäer bewegen. Hier liegt das geistige wie emotionale Fundament der neuen Strom Und Wasser-Scheibe "Reykjavik". Auf der Suche nach Antworten zieht es Nordmann Ratz über Ströme und Gewässer bis nach Island. Dort tut sich die Kieler Killer-Kombo mit heimischen Musikern zusammen und erschafft 19 Lieder aus Feuer und Eis.
"Scharfe Bräute, nette Leute" heißt es im gewohnt wortgewaltigen Einstieg "...Lism". Es wäre ebenso eine treffende Überschrift für das hier gebotene Programm. Die isländischen Partner liefern erlesene Arrangements, überwiegend hervorragendes Songwriting und schicke Soli an Instrument und Mikro. Hier muss sich niemand hinter Geysir-Ikonen wie Björk, Ólafur Arnalds oder Sigur Rós verstecken.
Die Melange klingt außergewöhnlich vielseitig und voll. Obgleich viel passiert und sich insgesamt ein Dutzend Musiker beteiligen, bleiben die Klänge transparent und punktgenau zirkuliert. Dabei mischt sich der typische Strom Und Wasser-Sound ganz ungezwungen mit den Vulkaninsulanern. Der bekannte Cocktail aus Barjazz ("...Lism"), Singer/Songwriter ("Stern Und Haus") und treibend gescatetem Uptempo-Rock ("Lavamädchen") paart sich farbengeil mit den oft intimen Folk-Strukturen der Gastgeber.
Als schärfste Musikbraut entpuppt sich dabei die großartige Sängerin Ragga Gröndal. In Island längst ein Star bietet sie Ratz rauem Organ glockenklar Paroli. So ensteht ein angenehmes Beauty & The Beast-Wechselspiel. Charisma und Wucht setzt sie dabei extrem songdienlich, ohne jegliche Egozentrik ein. Gleichwohl beschleicht einen in jeder Sekunde das Gefühl, dass sie beide männlichen Vokalisten - Ratz und Egill Olafsson - jederzeit an die Wand singen könnte, wenn sie es darauf anlegte.
Bei den Instrumenten stechen besonders zwei Hinhörer heraus. Raggas Bruder Haukur Gröndal glänzt mit wundervollen Einlagen an Klarinette ("...Lism") und lässigem Saxophon ("Wenn Du Ein Schwert Brauchst") Marke Sting anno "The Dream Of The Blue Turtles"). Jederzeit in der Lage das Zünglein an der Waage zwischen Uplifter und Tränenzieher zu geben. Auch der von mir ohnehin hochgeschätzte Tastenkönig Enno Dugnus gibt eine ähnlich starke Vorstellung auf dem Gefühlskarussel seines Piano-Keyboards wie schon auf "Anticool" oder "Mondpunk".
Die Reise zu den Lavaströmen bringt auch Poesie und Romantik in Ratz Seele so richtig zum Glühen. Kaum zu glauben: Er steigert das sprachlich untopbar gewähnte Niveau seiner Zeilen noch (etwa im unwiderstehlich niedlichen "Fernlaternchen"). Während ihn die meisten Medien des schmirgelnden Organs wegen mit Tom Waits vergleichen, verdient er sich hier auch als Texter einen Platz auf dem Podest neben Waits. Die Platte ist gespickt mit Strophen und Sätzen zum Niederknien.
So heißt es in "Stern Und Haus": "All das verging im Nu; all das entsteht erneut / Ich such' nach einem 'Du'; wie das die Häuser freut / Aber die Sterne fern, die lässt das Leben kalt / Die haben gar nichts gern; die geben keinen Halt / So bin ich selbst halb Stern und bin auch selbst halb Haus / Mal kreis' ich, ach, so fern; mal geh ich ein und aus."
Ausgerechnet Co-Komponist/Co-Sänger Egill Olafsson trübt die gipfelstürmende Superlative ein wenig. Nicht immer zeigt sich sein Songwriting über jeden Zweifel erhaben ("Keisarinn"). Handwerklich kann man dem Gesang nichts vorwerfen. Stimmlich jedoch reicht er nicht entfernt an die Ausstrahlung von Ratz/Gröndal heran. Bei Balladen wie "Ich Denke An Dich/Eg Hugsa Um Pig" bleibt Gänsehaut aus. Und das etwas verkrampft zwischen Nordindianergeheule und angerapptem Gerumpel pendelnde "Furdudyr" ist auch nicht gerade ein Höhepunkt zwischen den anderen Perlen. Dennoch ist die Platte schon jetzt eine der interessantesten (weitgehend) deutschsprachigen Veröffentlichungen des Jahres.
2 Kommentare
@Anwalt:
Glückwunsch zur Bemusterung. Das Dingens hat sich gestern erstmals bei mir gedreht und hat zumindest Eindruck hinterlassen. Es braucht - wie bei Strom & Wasser üblich - noch ein paar Durchläufe, bis ich es vernünftig einschätzen kann, aber das Fazit teile ich schon mal.
Laut Booklet ist das Europa-Projekt auf zehn Alben angelegt. Wenn dem so wäre (und einem Heinz Ratz traue ich bedenkenlos zu, daß es so kommt), stehen uns noch einige interessante Veröffentlichungen ins Haus.
Gruß
Skywise
bin gespannt, wie dein fazit dann inhaltlich aussieht, wenn du das teil besser kennst.