laut.de-Kritik

Kunstvolle und nostalgisch stilisierte Folk-Variationen.

Review von

Musizieren bedeutet für den Alleskönner und Mastermind Stephin Merritt stets das Schwelgen in einer eigentümlichen Künstlichkeit und stilistischen Vielstimmigkeit, die den Determinismus des sprachlichen Ausdrucks ebenso hinterfragt wie die Authentizität einer musikalischen Darbietung.

Mit seinem ohrgängigen Eklektizismus zwischen Folk und Synthiepop hat er bereits mit "69 Love Songs" begeistert und seine Fans mit dem kalkulierten Noisepop auf "Distortion" überrascht und irritiert, das sich dem Soundgewand von The Jesus And Mary Chain annäherte.

Der amerikanische Singer/Songwriter treibt mit seinem Ensemble The Magnetic Fields sein ironisches Spiel. Mit "Realism" veröffentlicht er ein Album, das einen angenehmen Liebreiz und Wohlklang verströmt, aber alles andere als zeitgemäß und real klingt.

Als Variety-Folk bezeichnet er seine Musik und schafft sich eine Spielwiese, auf der er sich vor dem Hintergrund des orchestrierten britischen Folks der späten Sechziger unkonventionell austobt.

Mit dem Verzicht auf Synthesizer und Schlagzeug kreiert die Band heitere und verträumte Pop-Miniaturen im Spannungsfeld von Kammerfolk und nostalgisch tönendem Jahrmarkt und süßt sie ordentlich mit Melodien mit Kinderlied-Charme. Das mutet an wie der fantasievolle und entrückte Ausflug in das Land des Zauberers von Oz. Dass die liebliche Stilisierung dabei permanent am Abgrund zum Kitsch wandelt und dabei lyrisch mit tragischen und zynischen Inhalten aufwartet, ist durchaus beabsichtigt.

Die melodische Schlichtheit und die einfache Rhythmik fungieren hier als Konzept, eingerahmt von zarten Arrangements aus Akustikgitarre, Akkordeon, dem Xylophon,Tablas und allerlei anderen Instrumenten. Das verleiht manchem Song einen viktorianischen LoFi-Flair. In diese entspannte Atmosphäre fügt sich Merritts warmer Bariton wunderbar ein. Daneben überlässt er der zauberhaften Shirley Simms ("Interlude", "Always Already Gone", "Painted Flower") und Claudia Gonson ("The Dolls' Tea Party") die Gesangsparts.

Während die Combo in "We Are Having A Hootenanny" in Volksfest-Manier aufspielt, gibt sich Merritt mit "Everything Is One Big Christmas Tree" ganz besinnlich und lässt seinen Chor den skurrilen, deutschsprachigen Weihnachts-Refrain anstimmen. Daneben reibt sich die besungene Einsamkeit in "Walk A Lonesome Road" unmerklich an der erhabenen Stimmung und malt "Painted Flower" die textliche Trostlosigkeit mit dem unabänderlich-melancholischen Tönen einer Spieluhr aus. Mit "From A Sinking Boat" fügen sich die Instrumentierung und die Erkenntnis der verlorenen Liebe in trüber Atmosphäre schlüssig ineinander.

Die zauberhaft entrückten Songs auf "Realism" weichen mit einschmeichelndem Schönklang und sanfter theatralischer Stilisierung die gängige Vorstellung von Folk auf, ohne den Hörer zu überfordern. Ganz im Gegenteil. Die Stärke Merrits besteht darin, die Nahtstellen von Originalität und Künstlichkeit zu harmonischer Kohärenz zu führen. Daraus resultiert eine Gelassenheit und Friedlichkeit, die sich dann und wann in Niedlichkeit zu verlieren droht. Möglicherweise hat der Tausendsassa Stephin Merritt eben eine solche Rezeption in Betracht gezogen und würde sie mit einem schelmischen Grinsen quittieren.

Trackliste

  1. 1. You Must Be Out Of Your Mind
  2. 2. Interlude
  3. 3. We Are Having A Hootenanny
  4. 4. I Don't Know What To Say
  5. 5. The Dolls' Tea Party
  6. 6. Everything Is One Big Christmas Tree
  7. 7. Walk A Lonely Road
  8. 8. Always Already Gone
  9. 9. Seduced And Abandoned
  10. 10. Better Things
  11. 11. Painted Flower
  12. 12. The Dada Polka
  13. 13. From A Sinking Boat

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