laut.de-Kritik
Eine Platte wie ein Unfall: Man kann einfach nicht weghören.
Review von Ulf KubankeZugfahren ist romantisch und entspannend? Ein Balsam für die Seele während schmucke Landschaften vorbeiziehen? Vergesst es! Hier kommen die Residents und liefern auf "The Ghost Of Hope" eine Chronik von 19 Zugunglücken des 19. Jahrhunderts voller Blut, Schmerz, Tragödie und Tod. Einmal mehr verpackt in ihre einmalige Mischung aus familienfreundlicher Unterhaltungsmusik und verstörender Collage.
Wie es sich für ein zünftiges Residents-Werk gehört, setzen sie dabei lediglich vordergründig auf den Schockeffekt. Entsprechend lohnend ist die Beschäftigung mit ihrem doppelten bis dreifachen Boden. Die Philosophie dahinter: Fortschritt und maschineller Segen fordern - genau wie der Teufel - stets unerbittlich ihren Preis. Nichts ist umsonst, außer der hier ausgebreiteten Endlichkeit des Lebens. Wer die Beruhigungspille des Komforts sucht, erhält gratis den Wahnsinn dazu.
Ihr Stilmittel ist ein ebenso kruder wie einleuchtende Cocktail aus fragmentarischer Reportage plus Storytelling, der dauernd in Gefahr schwebt, sarkastisch zerbrochen oder musikalisch dekonstruiert zu werden. Wer auch immer die Residents sein mögen: Hier macht tatsächlich eine Bande ca 70-jähriger Senioren eines der schrägsten und interessantesten Konzeptalben überhaupt und stochert mit zeitlosen Finger in der Wunde menschlicher Technikhörigkeit und Hybris.
Die unfassbarerweise ein halbes Jahrhundert lang gewahrte Anonymität der Mitglieder fungiert dabei als optimaler Katalysator. Ihre surreale Augapfelgestalt ist immun gegen jede Form optischer Alterserscheinung und wirkt stets um Welten dämonischer als alles Satanistenstyling in Black Metal und Co. Doch das ist nur die halbe Miete.
Diese freundlichen Boten des Unheils funktionieren hier sieben Songs lang vor allem, weil ihr musikalisches Könnertum nicht nur große Kunst, sondern ebenso große Unterhaltung beschert. "Death Harvest" ist einer der vielen Gänsehautmomente. Sonnenschein, Kinderlachen und zwitschernde Vögel erwarten die hörbar nahende Eisenbahn. Der anscheinend entgleisende Zug bringt aus der Idylle heraus eine entlang den Gleisen rastende Picknickgesellschaft um. Verpackt in schwelgende Filmmusiksounds geht es lakonisch "from pleasures of a picknick day into eternity."
Besonders der Kontrast aus mitunter geradezu unverschämt folkiger Melodik und dem Einbruch des akustischen Grauens macht das ganze so intensiv. "Shroud Of Fire" etwa würde musikalisch auch als heroisierende Partytrack auf das Wohl des Schienenverkehrs funktionieren, wäre da nur nicht dieser beunruhigende Text und das plötzliche Schrillen im Hintergrund.
Mein ganz persönlicher Favorit ist die ebenso pathetisch wie kaputt rockende Psychedelik in "Train Vs Elephant" samt grandios effektiver Gitarre. Gleichwohl kann man sich auch dem Sog des gesamten Albums nicht entziehen. Eine Platte wie ein Unfall: Man kann einfach nicht weghören. Intensiver kann Kunst kaum sein.
5 Kommentare mit 14 Antworten
"Die unfassbarerweise ein halbes Jahrhundert lang gewahrte Anonymität der Mitglieder .."
evt. weils kein aas interessiert, welche opas da hinter der maske vor sich hinschimmeln?
Jim knipfel. Ironischer Weise ist der am erblinden
@serotonine:
Isser doch schon längst, oder? Also - in rechtlicher Hinsicht ohnehin schon zu "Blindfisch"-Zeiten, aber praktisch bleiben ihm nach meinem letzten Stand noch ein paar helle Flecken am Mittag und mehr nicht ... (Stand: irgendwann Mitte '16).
Gruß
Skywise
Warum liest man "Slackjaw" bitte auf deutsch? Nichts gegen den Herrn Schönfeld, der macht in den meisten Fällen einen guten Job.
@Torque
Hast du das jetzt einfach in den Raum geworfen oder ist da was dran?
Als diese Schrunzkapelle gegründet wurde war Knipfel 4 Jahre alt.^^
Guter Einwand
Vllt hat Torque ja das Geburtsdatum von Knipfel mit dem Datum des Einmarschs in Polen verwechselt.
google sagt, hat wohl mal ne doku über die gemacht, wenn ich das richtig überflogen habe.
aber der anwalt wird dir da sicher genaueres zu sagen können.
der hatte kümstlerisch mit denen mehrfach zu tun, gilt als freund der band und passt hier thematisch total zum album, da knipfel auch oft in eigenen texten über den tod schreibt.
@moodycurmudgeon:
"Blindfisch" hab' ich 2002 oder 2003 (wahrscheinlich eher letzteres) im Sonderangebot als Hörbuch erstanden; Knipfel war mir davor kein Begriff, aber der Klappentext hat mich angesprochen. Waren damals halt noch andere Zeiten. Wenn ich damals gewußt hätte, wer Knipfel ist (nein, liebe Kinder, Smartphones gab's damals noch nicht, und selbst wenn, wären wahrscheinlich die Suchergebnisse extrem mager und chaotisch gewesen, selbst Wikipedia war noch so jung, daß Jim Knipfel keinen Eintrag hatte) ... wenn damals noch mehr Exemplare des Hörbuchs da gelegen hätten (nein, liebe Kinder, damals gab's Sonderangebote, bei denen galt "wenn weg, dann keins mehr da") ... - ich hätt' mir wahrscheinlich die Anschaffung geschenkt.
Das Hörbuch ist angenehm zu hören, aber es spart einige Passagen aus, die sich zu sehr auf die englischsprachige bzw. gezielt US-Kultur beziehen, und auch vieles vom Slang ist deutlich abgeschwächt worden.
Gruß
Skywise
@Skywise
Keine Sorge, ich hätte Kniffel auch nicht gekannt, wenn ich das Buch nicht Zuhause gefunden hätte. Ich hatte mir aber kurze Zeit später aber die englische Ausgabe geholt und fand diese wesentlich besser. Das ich weiß, das Schönfeld das übersetzt hat liegt, einfach nur daran, das ich über die Jahre einige Bücher geschenkt bekam, die er auch übersetzt hat. Ob die Bücher jetzt meinen Geschmack treffen sei mal dahingestellt.
*Knipfel. Ich sollte meine Beiträge doch kurz mal überfliegen, bevor ich die poste ...
dhvw, ok, klar, das war ne steilvorlage für den spruch.
wenn der vordergründige lacher dann verklungen ist, kann man jedoch erkennen, das es in ansehung des zeitraums schon ne recht einmalige leistung ist, die sicher nicht auf irrelevanz beruht.
da wären u.a. das skandalalbum "third reich n roll",
ihre pioniertätigkeit für entwicklung und etablierung der mtv-videoclipästhetik,
einige beiträge, die es in die permanente ausstellung des museum of modern art schafften
oder
ihre hank williams-dekonstruktion "kaw-liga", die ein frühes highlight der house-music war.
Kommt nicht unbedingt an den Irrsinn von Duck Stab, Eskimo und Commercial Album ran, geht aber konzeptuell durchaus auf und rotiert hier sicherlich noch paar Mal. Finds jetzt nicht schlecht, aber für mich eher eine solide 4/5.
Bitte lieber mal ein Review zum letzen Frank Carter Album, als diesen Mist hier...
Gibt es doch längst: http://www.laut.de/Frank-Carter-The-Rattle…
Ah... mein Fehler.
Dachte im Artikel zum jeweiligen Act ist die immer die aktuellste Scheibe gelistet. Dort ist aber noch die "Blossom" als aktuelles Album aufgeführt.
Dann nehme ich natürlich alles zurück... was Frank Carter betrifft.
"Die unfassbarerweise ein halbes Jahrhundert lang gewahrte Anonymität der Mitglieder .."
Zwei, drei Klicks bei Google genügen, dann hat sich die Sache mit der Anonymität erledigt.