laut.de-Biographie
Tokio Hotel
In Tokio gibt es viele Hotels. Sonderbare sogar. Hotels, in die so viele Menschen wie möglich hinein gequetscht werden, dass sie in kleinen Röhren schlafen müssen. In kleine Röhren passen zwar auch die Mitglieder der Band, um die es hier geht, aber ansonsten fehlt der direkte Bezug zu Tokio. Lässt man außen vor, dass alle gerne einmal Japans Hauptstadt besuchen würden, so sie denn Zeit dazu hätten.
Der Terminplan der Jungs von Tokio Hotel ist jedoch spätestens seit Sommer 2005 so proppevoll, dass an einen Ausflug in den Fernen Osten erst einmal nicht zu denken ist. Zu viel dreht dich um Promotion, Live-Auftritte, Interviews und sonstige öffentlichen Termine.
Zu diesem Zeitpunkt steht nämlich ihre erste Single "Durch Den Monsun" in den Startlöchern, die Kunde von den vier hat bereits - dank Internet - in ganz Deutschland die Runde gemacht. Der Song profitiert von poppigen Melodien und der damit einhergehenden Eingängigkeit, ohne auch nur halb so wild zu klingen wie es das Outfit der Band vermuten lässt.
Sänger Bill Kaulitz sorgt immerhin für einige Verwirrungen, klingt seine Stimme doch typisch für einen 15-Jährigen. Der Stimmbruch lässt noch auf sich warten, und auch sein Äußeres ist derart androgyn, dass viele sich fragen, ob da ein Mädchen oder ein Junge am Mikro steht. Jede Menge Haarlack, Kajal und schwarz lackierte Fingernägel mögen suggerieren, dass hier die Rocksau durchs Dorf galoppiert. Mit krachigen Tönen halten sich Tokio Hotel aber (noch?) zurück, auch wenn sie in "Leb Die Sekunde" (B-Seite der Debüt-Single) etwas ruppiger zu Werke gehen.
Die Keimzelle der Band liegt in Magdeburg. Sänger Bill wächst zusammen mit seinem Zwillingsbruder Tom in Leipzig auf. Der Stiefvater der beiden soll dafür verantwortlich sein, dass sich die Brüder mit dem Musikvirus infizieren. In Magdeburg treffen sie auf den am 8. September 1988 geborenen Gustav Klaus Wolfgang Schäfer (Schlagzeug) und Georg Moritz Hagen Listing (Bass, geb. 31.3. 1987).
Das Quartett nimmt 2003 am Bandwettbewerb "Hegel Rockt" des Hegel-Gymnasiums in Magdeburg teil. Diesen Contest leiern zwei 17-Jährige (Robert Kunstmann, Martin Blichmann) an. Da es in Magdeburg ständig an Auftrittsorten mangelt, sollen die Bands eine Plattform geboten bekommen. Der Name der Combo um die Kaulitz-Brüder lautete noch nicht stylish Tokio Hotel, sondern Devilish, es gab sogar schon eine Webseite (www.devilish-music.de). Den Sieg beim Wettbewerb tragen aber andere davon.
Um diese Zeit nimmt Bill an der Kinder-Ausgabe der Casting-Show Star Search teil. Der Blick hinter die Kulissen des Musikgeschäftes muss ihm wohl etwas auf den Magen geschlagen haben. Warum sonst sollte er einen Groll gegen Overground hegen, obwohl er selbst es bis ins Achtelfinale schafft, nachdem er zuvor schon die Herzen der älteren Damen mit einem Cover von "It's Raining Men" erobert. Heute findet er Casting-Shows - dem Image entsprechend - "voll arm".
Irgendwie dringt die Kunde von Devilish jedenfalls ins Universal-Hauptquartier nach Berlin. Ihr späterer Produzent Pat Benzner ist seinerzeit für das Album "Star Search The Kids" verantwortlich, daher wohl auch der Kontakt zu Bill. Ständig auf der Suche nach Marktlücken und Nischen, die noch nicht besetzt sind, rekrutiert der Major die vier Bengels und stattet sie mit einem Deal aus. Die Eltern setzen ihren Otto unter das Dokument, so dass der weiteren Karriere nichts im Wege steht.
Mit den alten Songwriter- und Produzentenhasen Dave Roth, Benzner und David Jost (Ex-Bed & Breakfast) werkelt das Quartett im Sommer 2004 im Studio am Album. Die Palette der Künstler, mit denen dieses Trio bislang gearbeitet hat, ist so bunt wie die Musikwelt selbst. Von den Lollipops über Patrick Nuo, Marianne Rosenberg, und Oli P. haben sie schon alle Höhen der Charts erklommen und helfen nun auch Tokio Hotel, ihren Traum zu verwirklichen.
Die Rechnung geht auf: Die erste Single "Durch Den Monsum" erobert die deutschen Charts im Laufschritt und setzt sich auf der Eins fest. Auch das im September 2005 folgende Album "Schrei" schafft es auf Platz eins der deutschen Charts. Die Konzerte sind ausverkauft, die erste Tour der vier Jungs muss verlängert werden. Schon Anfang Dezember schiebt ihre Plattenfirma die DVD "Leb Die Sekunde: Behind The Scenes" nach.
Von den Covern der Jugendmagazine sind Tokio Hotel nicht mehr weg zu denken. Sogar eine Veränderung von Bills markanter Frisur ist der Bravo eine Titelstory wert. Die Jungs hingegen finden das alles ein bisschen dick aufgetragen. Trortzdem kippen bei ihren Konzerten fast täglich über 100 junge Fans um. Im Februar 2006 kollabieren bei einem Konzert in Trier sogar über 200 Mädchen. Fünf von ihnen müssen ins Krankenhaus eingeliefert werden, die übrigen versorgen Notärzte und Sanitäter vor Ort. Ihren Schulpflichten kommen Bill und Co. mittlerweile per Fernunterricht nach.
Langsam aber sicher durchbricht der Tokio Hotel-Virus auch deutsche Landesgrenzen: Im September erscheint ihr Debütalbum "Schrei" auch in Frankreich und erklimmt dort aus dem Stand Platz 19 - Rekord: Noch nie gelang es einer deutschsprachigen Band, mit einem Debütalbum in der ersten Woche die Top 20 der französischen Charts zu knacken.
Derlei Erfolge machen selbstbewusst: Für das Amnesty International-Musikprojekt "Make Some Noise" nimmt die Band im Rahmen des 50-jährigen Jubiläums von Europas größter Jugendzeitschrift Bravo den John Lennon-Song "Instant Karma" neu auf.
Fürs Jahr 2007 kündigt die Band ein neues Studioalbum an. Im Februar ist es soweit, der Titel lautet "Zimmer 483". Bereits einen Monat zuvor erscheint daraus die Singleauskopplung "Übers Ende Der Welt". Der ursprünglich für Mitte März geplante Tourneestart muss allerdings um zwei Wochen verschoben werden. Grund: Die neue Bühne, das Herzstück der Show, ist nicht fristgerecht fertig geworden.
Die Gigs im benachbarten und amerikanischen Ausland machen deutlich, dass Tokio Hotel längst nicht mehr nur ein lokales Phänomen sind: Europaweit und darüber hinaus liegen die Mädchen den Magdeburgern zu Füßen, Goethe-Institute berichten von signifikant gestiegenem Interesse an der deutschen Sprache. Trotzdem reifen noch im Frühjahr Pläne für ein ganz auf Englisch aufgenommenes Album: "Scream" kommt im Juni mit Songs vom Debüt und von "Zimmer 483" europaweit auf den Markt.
Im Herbst 2007 erscheint ein Mitschnitt der "Zimmer 483"-Tour auf Doppel-DVD, aufgenommen beim Auftritt in der Arena in Oberhausen und mit etwa 50 Minuten Backstage-Material versehen. 'Weltpremiere' ist bereits am 25. November: Knapp eine Woche bevor der Livemitschnitt in die Läden kommt, zeigen bundesweit über 100 Kinos zeitgleich "Zimmer 483 - Live In Europe".
2008 gelingt der erhoffte totale internationale Durchbruch. Im August touren Tokio Hotel durch die USA. Im Zuge der diversen Konzerte und der öffentlichen Aufmerksamkeit notieren sie Platzierungen in den offiziellen Billboard Charts. Bei den prestigeträchtigen MTV-Music Awards räumen die Magdeburger in den Staaten sogar den Preis für den "Best New Artist" ab.
Ebenso erhalten sie in Südamerika nicht weniger als vier MTV Latin America Awards; u.a. in der dort sehr wichtigen Song Of The Year-Kategorie. Zu guter Letzt verleiht man den Teen-Rockern im November bei den MTV European Music Awards die Auszeichnung im Bereich Best Headliner. Mit dieser Fülle an Ehrungen gehören sie pophistorisch zu den ganz wenigen international anerkannten und erfolgreichen deutschen Acts.
Auf "Humanoid" (2009) zeigt sich das Trio neben Bill Kaulitz handwerklich durchaus weiterentwickelt. Instrumente und Sounds werden vielseitiger eingesetzt, "Hunde" z.B. glänzt mit einem ohrwurmigen Arrangement, das auch den verbohrtesten Hater noch auf die Tanzfläche bringt. Immerhin haben sich Tokio Hotel für die wichtige dritte Schallplatte Prominenz wie Guy Chambers (Songwriter für Robbie Williams) oder Desmond Child, den alten Veteranen des Radiorock, mit ins Boot geholt. Das Resultat? Alles fiept und flackert spacig in bester Autotune-Plastik-SciFi-Manier - schließlich bedeutet der Albumtitel übersetzt "menschenähnlich". Indes wäre "musikähnlich" der passendere Titel gewesen.
Nach 2010 taucht die Band zunächst völlig ab, nur von Bill und Tom gibt es gelegentliche Lebenszeichen, meistens aus ihrem neuen Lebensmittelpunkt Los Angeles. Oder auch als Juroren von DSDS in der 2012er-Staffel. Mit einer Album-Ankündigung, neuer Website, Interview- und Proberaum-Trailern sowie Alltags-Szenen unter dem Titel 'Tokio Hotel TV' versucht man 2013/14, die Öffentlichkeit an das Nullerjahre-Phänomen Tokio Hotel zu erinnern.
Im Herbst 2014 erscheint dann endlich neue Musik. Mit den elf Songs auf "Kings Of Suburbia" stoßen die Mittzwanziger ihre verbliebenen Altfans ordentlich vor den Kopf. Nur noch wenig erinnert an den arglosen Gitarren-Pop, mit dem sie sich zugleich als Teenageridole und Feindbilder etabliert haben. Stattdessen feiert man zu Elektro-Pop, billigen Dubstep-Einflüssen und einer Hello Kitty-Version von Linkin Park. Die Platte wird zum Flop, von knapp 20.000 verkauften Exemplaren ist die Rede (ihr 2005er Debüt "Schrei" verkaufte sich 1,5 Millionen Mal). Für Platz 2 der deutschen Album-Charts reicht es allerdings noch.
So verwundert es wenig, als im Frühjahr 2016 bekannt wird, dass Sänger Bill Kaulitz ein Soloprojekt startet. Mit Billy will er die Facetten Musik, Mode und Kunst unter einen Hut bringen. "I'm Not Okay" lautet das Ergebnis, eine EP mit insgesamt fünf Songs. Das Ende seiner Hauptband bedeutet dieser Schritt jedoch nicht. Mit "Dream Machine" erscheint im März 2017 das fünfte Tokio Hotel-Album.
In den folgenden Jahren sind die Kaulitz-Brüder immer mal wieder im deutschen TV zu sehen, u.a. in Heidi Klums "Germany's Next Topmodel". 2021 veröffentlicht Bill seine Autobiografie "Career Suicide", 2022 erscheint mit "2001" auch noch einmal ein neues Tokio Hotel-Album.
1 Kommentar
Oha. Von der Festhalle in den Gibson Club. Ham se den denn wenigstens voll bekommen ?