laut.de-Kritik
Ein Schaulaufen der Superlative.
Review von Eberhard DoblerDie geballte Power des westlichen Pops rockt für Afrika. Darf man so was schlecht finden? Jedenfalls nicht, sollte der Großteil des eingespielten Geldes (EMI spricht von einem "großzügigen Teil") die Not der Ärmsten der Armen tatsächlich lindern.
So gingen die Meinungen über Nutzen und Effizienz von Bob Geldofs Wiederauflage des legendären Live Aid-Events vor 20 Jahren bereits am 2. Juli dieses Jahres auseinander, als der Event gleichzeitig in London, Philadelphia, Paris, Berlin, Rom, Tokio, Moskau, Toronto und Johannesburg über die Bühne ging.
An dieser Stelle soll es in erster Linie um den Unterhaltungswert und die Qualität des auf DVD gebannten Mammutkonzerts gehen. Als bisher größtes Konzert-Ereignis deklariert, sind über zehn Stunden Musik, dazu u.a. Proben- und exklusives Backstage-Material zu diskutieren.
Von den einzelnen Auftritten mal abgesehen: was soll schon schief gehen, wenn Pink Floyd eine historische Reunion feiern, Paul McCartney mit U2 bzw. George Michael, Elton John mit Pete Doherty oder Coldplay mit Richard Ashcroft auf der Bühne stehen und dazu eine Riege von Filmstars wie Brad Pitt an das Gewissen der Welt appellieren? Ein Schaulaufen der Superlative.
Den immensen Aufwand dokumentieren drei Discs: Die Events im Londoner Hyde Park (inklusive dem Finale "Hey Jude") bzw. vor Philadelphias Museum Of Art werden komplett, die sieben anderen Konzerte in Ausschnitten ineinander geschnitten. Namen, Zahlen und Menschenmassen erschlagen: 1000 Künstler traten vor zwei Millionen Fans und drei Milliarden TV-Zuschauern auf, wie Organisator Bob Geldof im Hyde Park verkündete. Für sein Engagement erhält der Wohltätigkeitsaktivist nächste Woche den Nord-Süd-Preis des Europarates, überreicht im portugiesischen Parlament Lissabons.
Stars geben sich das Mikro in die Hand, ein Hit folgt dem nächsten. Bild- und Tonqualität der Silberlinge sind unterm Strich der Größe des Ereignisses angepasst, nur Philadelphia sowie Teile der Bonus-CD fallen bildtechnisch etwas ab. Geldof bewies jedenfalls ein Händchen fürs Line-Up: Ein Mix, der jung wie alt und zu einem gewissen Grad auch Mainstream und Alternative verbindet.
U2 eröffnen im Hyde Park mit dem hoffnungsfrohen "Beautiful Day". Chris Martin wird von den Fans im Refrain von "My Place" geradezu übertönt. Coldplay und Ashcroft werden für "Bitter Sweet Symphony" bejubelt, ebenso wie Elton John. Die Briten lieben eben ihre Stars. Eine großartige Nummer bleibt T.Rex' "Children Of The Revolution", das Elton mit einem etwas irritierten Pete Doherty intoniert: gute Idee und schön schräg performt.
Geradezu absurd erscheint im Anschluss Bill Gates' Ansprache. Zu ihm passt besser Dido, die den ersten Vertreter Afrikas begrüßt: Youssou N'Dour. Der Senegalese erhebt als erster die Stimme des gebeutelten Kontinents. "7 Seconds" sollte er allerdings nur mit Neneh Cherry singen. Dass die Konsens-Superstars R.E.M. Britannien dann zu Begeisterungsstürmen hinreißen, muss kaum erwähnt werden.
MS. Dynamite bringt erstmals modernen Black Music-Sound auf die Bühne und damit (von Doherty mal abgesehen) etwas für die jungen Fans. Geldof, der später "I Don't Like Mondays" spielt, übergibt per Schaltung nach Philadelphia an Will Smith (der rappende Schauspieler performt später gemeinsam mit DJ Jazzy Jeff), der erstmals alle weiteren beteiligten Städte anspricht. Die Black Eyed Peas eröffnen Philly u.a. mit der Familie Marley und in Rom geben Duran Duran eine sehr rockige Version von "Wild Boys" zum Besten.
Eine sichere Bank für Gitarrenrock bleiben Muse (in Paris), Travis (London) oder die Kaiser Chiefs (Philadelphia). Bon Jovi haben hier eh fast ein Heimspiel. Green Day ziehen dann vor dem Brandenburger Tor die Temposchraube an, und die hippen Beckhams lassen sich in London den Snoop Dogg-Gig nicht entgehen. Danach löst Brad Pitts Ansage fast eine Hysterie aus.
Den ersten Beitrag aus Toronto steuert Haudegen Bryan Adams bei, während Kanye West in Philly nach Destiny's Child seine Klasse ausspielt. In London erinnert Geldof noch einmal an die Dramen, die sich auf dieser Welt tagtäglich hunderttausendfach ereignen. Madonna schafft es dann problemlos, die Laune wieder zu heben: Die Ciccone kriegt sie alle! Nicht zuletzt dank ihrer perfekt durch choreografierten Bombe "Music".
Und der Overkill an Stars hat noch lange kein Ende. Brian Wilson bringt Kaliforniens Sonne nach Berlin, die Londoner Kids bejubeln Snow Patrol und The Killers. Linkin' Park brettern in Philly los, bevor sie Chef-Rapper Jay-Z zur Kollabo bitten.
In London goutieren die Fans die Scissor Sisters und Velvet Revolver, in Philly beeindruckt Alicia Keys, Def Leppard spielen für die älteren Semester auf. In Toronto rocken derweil die Jets, und Sting kann in London mit Police-Songs überhaupt nichts mehr falsch machen.
Auf Disc 3 leitet dann eine gut gelaunte Mariah Carey samt Kinderchor den Londoner Abend ein, bevor mit Vusi Mahlasela erstmals Johannesburg in den Fokus der Kameras gerät: "When You Come Back" erinnert an Pauls Simons Afrika-Ausflug "Graceland".
In Moskau intonieren die Pet Shop Boys vor der beeindruckenden Kulisse des Kremls ihr umjubeltes "Go West", und in Toronto betritt ein unprätentiöser Neil Young samt Ehefrau die Bühne: der Mann kommt ohne Getöse aus.
Das Boy-Set steuert nun langsam aber sicher auf den Höhepunkt zu. In London kündigt David Beckham Robbie Williams an. Und der intoniert auch noch Queens "We Will Rock You": Der Hyde Park steht Kopf. Außer Robbie sind nur noch Pink Floyd, Paul McCartney und Stevie Wonder mit mehr Songs vertreten. In Paris jubeln die Franzosen derweil Placebo zu, die Berliner Faithless.
Einen absoluten Höhepunkt der Box stellt Stevie Wonders Auftritt in Philly dar: Der Soul-Veteran interagiert von der ersten Sekunde an mit dem Publikum und legt mit Rob Thomas ein unglaublich cooles "Higher Ground" aufs Parkett: fleischgewordener Sound.
In London zeigen dann alte Herren, dass sie es noch drauf haben - und wie! The Whos Pete Townshend lässt röhrende Gitarren sprechen, und die Sensation des Abends, Pink Floyds Reunion, wird zu einem Triumph. "Wish You Were Here" aus Tausenden von Kehlen ist eigentlich nicht zu toppen: ein Song für die Ewigkeit. Das Global Player McCartney, der den Tag begann, zum Finale auf die Bühne bittet, passt ebenfalls.
Die Extras von Disc 4 halten zum Schluss noch ein paar Schmankerl mit weiteren Auftritten (Audioslave oder Björk), zwei Kurzfilme zum Thema, Backstage-Impressionen mit Promi-Schaulaufen im Hyde Park sowie Pink Floyd beim Proben bereit. Den Hauptanteil macht allerdings das Abschluss-Konzert der weltweiten Aktion ein paar Tage später in Edinburgh aus.
Das schottische Publikum ist perfekt aufgelegt und begleitet lautstark Bands wie die Proclaimers, Wet Wet Wet, 1 Giant Leap feat. Neneh Cherry, The Thrills und Travis bevor ein UFO auf der Bühne landet: James Brown wirkt zwischen den vorherigen Bands und der zum Schluss vom Stadion ergreifend gesungenen Hymne "Flower Of Scotland" wie der Abgesandte einer fremden Welt - den Gottvater des Funks und das Publikum stört das freilich überhaupt nicht.
Zusätzlich bringt EMI einzelne Disc Sets der Konzerte in Berlin, Paris, Rom und Toronto auf den Markt, die neben zweieinhalb Stunden Musik ebenfalls Kurzfilme enthalten. Zudem gibts noch das offizielle Live 8-Buch. Für einen Musik-DVD-Abend taugt die Vierer-DVD-Box allemal. Allerdings können zehn Stunden vor der Glotze am Ende ähnlich anstrengend sein wie der tatsächliche Besuch eines solchen Events.
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