laut.de-Kritik
1,5 Milliarden Zuschauer sind nicht genug!
Review von Mathias MöllerAls ich mich neulich mit einer Freundin über das Live Aid-Konzert von 1985 unterhielt, bekam sie sofort leuchtende Augen, und erzählte, dass sie es dank ihrer älteren Schwester mit ansehen durfte und auch nicht so viel verpasst hätte, wenn sie nicht selbst noch zum Chor gemusst hätte. Ältere Geschwister fehlen mir, was zur Folge hat, dass ich mich sehr wohl an die traurigen Bilder der Hungersnot in Äthiopien 1984 erinnern kann, nicht aber, dass Großereignis Live Aid im Fernsehen miterlebt zu haben.
Genau diese Bilder, die auch noch zwanzig Jahre später im Gedächtnis der Menschen lebendig und durch die Situation im Sudan wieder aktuell geworden sind, waren es, die Bob Geldof, Sänger der Boomtown Rats dazu bewegten, mit einer Handvoll Mitstreitern innerhalb eines knappen Jahres das Jahrhundertereignis Live Aid auf die Bühnen zu bringen. Es sollte gezeigt werden, dass die Menschen der Industrienationen sich um das Schicksal Afrikas kümmern, und dass es gar nicht so schwer ist, Hilfe zu organisieren. 1,5 Milliarden Zuschauer verfolgten das Ereignis damals im TV, fast 150 Millionen Dollar kamen mit Spenden und Tantiemen zusammen.
Lange hat sich Geldof gegen das kommerzielle Ausschlachten dieses sicherlich sehr gut zu vermarktenden Festivals gewehrt, zu Beginn so vehement, dass die Produzenten der jetzt doch vorliegenden DVD einen Großteil der Aufnahmen verloren glaubten. Retter in der Not war - man glaubt es kaum - MTV. Ihr Archiv hütete zig Stunden Material, das einen guten Teil der Viererbox stellt. Eine prima Gelegenheit, in Erinnerungen zu schwelgen oder mal zu sehen, warum unsere Eltern oder unsere älteren Geschwister von einem epochalen Ereignis reden.
Der Umfang der Box ist gigantisch: vier DVDs mit knapp über zehn Stunden Friede, Freude und Eierkuchen für die ganze Welt wollen bewältigt werden. Den Anlass der Veranstaltung ruft eine BBC Reportage mit herzzerreißenden Bildern ins Gedächtnis, bevor es im Londoner Wembley-Stadion unter den royalen Augen von Prince Charles und Lady Di zur Sache geht.
Vorgegangen wird (grob) chronologisch, Enter Stage: Status Quo. Die Holzhackerbuam des Rock erweisen sich als uneleganter Einstieg, aber auch hier deutet sich an, was sich durch den ganzen langen Konzerttag ziehen soll: die stilistischen Verbrechen der Achtziger Jahre werden auf diesem zeitgenössischen Dokument keineswegs vertuscht.
In die traditionelle Jeans- und Lederklamotte Status Quo hat sich ein pinkes Blouson-Hemd eingeschlichen. Der Style Council hält sich noch (ihrem Namen gemäß) zurück, die Boomtown Rats mit dem ausdrucksstarken Bob Geldof geben in ihrem größten Hit "I Don't Like Mondays" das Lernziel des Tages aus: "The lesson today is how to die." Dann aber: in kurzer Abfolge steigert sich die aufspielende Achtziger-Prominenz in einen alptraumhaften Rausch aus weiten Klamotten, Farben und Frisuren.
Adam Ant, der extrovertierte Rocker und Billy Idol-Vordenker, Ultravox mit noch dezenter Achtziger-Geschmacksverwirrung und Spandau Ballet, die stilistisch den Vogel abschießen. "True" geht in einer Augapfel-überreizenden Flut von Lila und Gelb an einer Person, Mint, Pink, falschem Leder, Orange und VokuHilas unter.
Alle Teilnehmer entsprechend zu würdigen, wäre ein aussichtsloses Unterfangen. Darum an dieser Stelle eine kurze Zusammenfassung der übrigen geschmacklichen Entgleisungen: Howard Jones als Gesamterscheinung, Nik Kershaws Frisur und das dazu völlig unpassende Gar-Nicht-So-Eighties-Verhalten, die diversen verspiegelten Sonnenbrillen, die Beach Boys (ich tippe auf einen farbenblinden Zeugwart), Joan Baez, Kenny Loggins Jackett, Madonna und Elton John und Tom Pettys interplanetarer Anzug.
Musikalisch hält diese DVD neben einigen Kuriositäten auch diverse Leckerbissen bereit, zumal Auftritte gezeigt werden, die damals nicht im Fernsehen übertragen wurden. George Thorogood zum Beispiel dürfte Europäern weitgehend unbekannt sein, dennoch ist sein Auftritt in Philadelphias JFK-Stadion zumindest unterhaltsam. Die Beach Boys wirken bei der Darbietung ihrer Klassiker ein wenig traurig, die exaltierte Performance der Patti Labelle (man beachte die unglaubliche Frisur) ist unbedingt empfehlenswert.
Doch die wirklich guten Auftritte überwiegen. Da wäre Schmachtfetzen Phil Collins am Klavier (der zum heimlichen Star der Box avanciert, weil er mit der Concorde über den großen Teich jettet und als einziger sowohl in London als auch in Philadelphia auftritt). Bryan Adams kann 1985 durchaus noch mit seinen Klassikern "Kids Wanna Rock" und "Summer Of '69" überzeugen, aber richtig Stimmung kommt erst bei U2 auf, wenn Bono "Sunday Bloody Sunday" anstimmt und fast eine Massenhysterie auslöst.
Queen nehmen Wembley ebenfalls im Sturm, Duran Duran bieten im JFK einiges, die Pretenders rocken Philly ebenso wie The Who London. Paul McCartney wirkt etwas uninspiriert, und das obwohl - oder vielleicht weil? - die Beatles allgegenwärtig sind: Elvis Costello bringt es mit "All You Need Is Love" auf den Punkt, Patti Labelle zitiert John Lennons "Imagine", die Thompson Twins poppen die "Revolution". Die Gitarrengötter Clapton, Knopfler und May schütteln Licks und Riffs aus dem Ärmel, dass es eine Freude ist.
Erstaunlich ist auch die Bandbreite der Performances. Da ist für wirklich jeden Geschmack etwas dabei. Ob Achtziger-Sounds wie auf der ersten DVD, oder Rock in jeder Variante: Hardrock mit Black Sabbath, Heavy Metal mit Judas Priest (einer Performance, die damals nicht in Europa ausgestrahlt wurde), Country mit Neil Young (!), Bluesrock mit Clapton, oder Blues mit einem großartigen B.B. King.
Historisch ist wohl auch der bis dato nicht ausgestrahlte Auftritt von Run DMC zu nennen, die sich zum "King Of Rock" erklären. Der Abend endet in Philadelphia mit Mick Jagger und Tina Turner und "It's Only Rock'n'Roll" im Duett sowie Bob Dylan, der zusammen mit Ron Wood und Keith Richards "Blowing In The Wind" spielt. Als Dylan eine Saite reißt, reicht Wood ihm seine Klampfe und spielt, bis ihm eine neue gereicht wird, Luftgitarre.
Das Material ist schier endlos, in den Extras finden sich noch einige internationale Beiträge, darunter einer der damaligen deutschen "Pop-Elite". Leider ist hin und wieder die Bild-Qualität nicht die Beste, aber das liegt größtenteils an der damaligen Technik und muss somit wohl verziehen werden. Interessant wären noch ein paar retrospektive Stimmen zum Event gewesen, aber auch so steht die Live Aid-Box für ein gigantisches Unterfangen, das zeigt, dass man helfen kann, und Hoffnung nicht ungehört bleibt.
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