laut.de-Kritik

Brachialer Außenseiter-Punk gegen innere Dämonen.

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Kurt Cobain legte im Umgang mit den Medien gerne ein Verhalten an den Tag, das man heute wohl als "Trollen" bezeichnen würde. Als der Nirvana-Frontmann 1993 eine Liste seiner 50 Lieblingsalben veröffentlichte und das legendär miserable Album "Philosophy Of The World" der dilettantischen Geschwister-Band The Shaggs auf den fünften Platz setzte, dürfte er wohl schelmisch in sich hinein gegrinst haben. Vielleicht traf Cobain diese Wahl aber auch ohne Augenzwinkern, schließlich hatte er ein Herz für Außenseiter.

So befindet sich auf derselben Liste, weit abgeschlagen auf dem 46. Platz, auch ein Album, das Cobain definitiv ganz unironisch mit aufnahm: "Is This Real?" der Portlander Punk-Ikonen Wipers floss mit seinem brachialen Gitarrensound und verzweifelten Songs über Entfremdung und Zurückweisung nicht nur tief in die DNS von Nirvana ein, sondern prägte mit diesem Vorstoß aus dem pazifischen Nordwesten der USA den gesamten Klangkosmos von Bands aus und um Seattle.

Bevor Cobain die Band um Mastermind Greg Sage mit dieser Erwähnung und eindrucksvollen Nirvana-Covern der Songs "Return Of The Rat" und "D-7" ins Rampenlicht stellte, reichte die Bekanntheit von Wipers kaum über die Grenzen Portlands hinaus. Als in der Szene gefeierte Lokalmatadore erreichten sie in den Achtzigern in ihrer Heimat Kultstatus, der auch in Cobains knapp zwei Autostunden entfernte Geburtsstadt Aberdeen überschwappte.

Bevor es so weit war, hatte Sage bei der Gründung der Wipers 1977 einen speziellen Fahrplan für sein Projekt aufgestellt. Der Verzicht auf Tourneen, Interviews und Videos sollte die Band in ein selbst kreiertes Mysterium hüllen und Sages Kunst für den Hörer erweitern. Sage verstand sich auch nicht als Trittbrettfahrer der Punk-Bewegung, die zum Zeitpunkt der Gründung gerade einen Höhepunkt erreicht hatte. Für ihn sei es schlichtweg Zufall gewesen, dass sich der Punk-Sound mit seinen eigenen musikalischen Ambitionen deckte.

Das introvertierte Songwriting auf "Is This Real?" gibt ihm Recht. Hier klinkt sich kein weiteres Szene-Derivat in die Punk-Polonäse mit ein. Vielmehr wirkt der Studiotechnik-Enthusiast Sage wie ein eigenbrötlerischer Bastler. Dazu passt, dass er die erste Version des Albums auf einem Vierspur-Tonbandgerät in seinem privaten Proberaum aufgenommen hatte, was die Plattenfirma Park Avenue Records dann doch als etwas zu Lo-Fi erachtete. Wer nun denkt, die finale Fassung von "Is This Real?" aus einem professionellen Studio wäre ein audiophiler Genuss, hat weit gefehlt.

Im Opener "Return Of The Rat" schleudert Sage mit seiner Gitarre so viel Dreck, dass er fast das Schlagzeug darunter begräbt. Hyperaktive Power-Chords lassen die Amps ächzen, während die Drums um Atem ringen. Leicht übersteuert keift Sage ins Mikrofon: "Well, you better watch out / Well, you better beware / Cause they're coming from all sides of the country now / You'd better beware". Diesen schonungslosen Gewaltsound nahmen Nirvana neun Jahre später auf ihrem Debütalbum "Bleach" in Songs wie "Negative Creep" deutlich verklebter wieder auf.

Den Gegenpol zum schroffen Einstieg bildet das schmachtende "Mystery", in dem Sage die Zerre runter dreht und in unter zwei Minuten eine Blaupause für verträumten Noise-Rock entwirft, worauf später Bands wie Dinosaur Jr. und Sonic Youth aufbauen sollten. Sage beweist an dieser Stelle, dass er nicht nur abholzen, sondern auch eingängigen Pop in sein zerfleddertes Punk-Gewand hüllen kann.

Dass der Mann etwas von Radiotauglichkeit versteht, liegt wohl auch daran, dass er in seiner Schulzeit etliche Stunden mit dem Hören der zwei lokalen Top-40-Stationen verbrachte, um persönliche Schallplatten für seine Klassenkameraden zusammenzuschneiden. Mit dem ersten eigenen Vinyl-Rekorder, den sein Vater von seiner Arbeit beim Fernsehen mitbrachte, begann seine Faszination für Aufnahmetechnik, die auf "Is This Real?" zum Tragen kommt.

Auf Songs wie "Let's Go Away", durch den eine Brise Ramones-Leichtsinn weht, schickt Sage seine Sandpapier-Gitarre auf die Rockabilly-Tanzfläche und liefert dabei musikalisches Können ab, das damals vielen Punk-Bands abging. Die garstige Produktion täuscht nicht darüber hinweg, dass in Sage ein raffinierter Songschreiber und Instrumentalist steckt. Das macht der Titeltrack "Is This Real?" besonders deutlich.

Sage leitet das flehende Liebeslied mit einem kurzen Power-Rock-Intro ein, lässt es in dissonante Akkorde mäandern, bis das Spiel mit der Laut-Leise-Dynamik endgültig die Gefühlsachterbahn hörbar macht. Der Song gibt sich so unausgeglichen und rastlos wie der darin besungene Gemütszustand. Dieser Punk richtet sich nicht gegen das Establishment, sondern gegen die inneren Dämonen.

Mit Titeln, die das Außenseitertum und Themen wie soziale Entfremdung in den Mittelpunkt stellen, faltet Sage auf "Is This Real?" auch inhaltlich die Hände zur Räuberleiter für den Grunge. Im verstörenden "Alien Boy" schreit Sage zu lauernder Bassline und Gitarren-Eruptionen: "So you got to turn away / There's no other way / 'Cause you're an alien / They hurt what they don't understand". Der Song gibt einen ersten Vorgeschmack auf eine Dekade später, in der sich populäre Rockmusik vom egozentrischen Griff in den Schritt zu introvertierter Abgrenzung entwickelte.

Klanglich macht das das rückblickend betrübte "D-7" deutlich. Der beste Nirvana-Song, den die Band selbst nie geschrieben hat, zeigt bereits 1980 alle Markenzeichen der Grunge-Größen. Mit hängenden Schultern wandelt der Track zu Beginn unter grauen Wolken, schleppt sich eisern bis zum gewaltigen Gefühlsausbruch, der alle Enttäuschung und jeden Frust unter kratzborstigen Gitarren begräbt. Die Zeilen "Reject, reject / Towards anti-social / Dull, dull, so dull" sollten später zum Lebensgefühl einer ganzen Generation werden, an deren Spitze Cobain nie stehen wollte.

Ob nun auf "Don't Know What I Am" oder auf "Window Shop For Love": Sage benutzt seine Musik auf dem Wipers-Debüt immer wieder für einen intimen Blick in sein Inneres. Coolness strahlt er damit wahrlich nicht aus - seine Musik stellt den Gegenentwurf zum selbstbewussten Rockstar. Sage stand mit "Is This Real?" am Anfang einer Generation von Rockmusikern, die sich nicht als schillernde Bühnenfiguren, sondern als verwundbare Normalos mit einer normalen Gefühlswelt präsentierten.

Zudem schlugen Wipers mit dem giftigen Gitarrensound, der die sechs Saiten in bisher ungewohnter Härte aus den Verstärkern dröhnen ließ, eine Schneise für die harte Noise-Gangart in den Achtzigern. Und sogar die Melvins ließen sich für ihren tief tönenden Sludge von Sage inspirieren. Mit "Youth Of America" und "Over The Edge" legten Wipers bis 1983 noch zwei weitere Alben nach, die heute ebenfalls zu Klassikern zählen. Der restliche Katalog der Band, die sich 1989 auflöste, entfernte sich mit ausufernden Gitarrensoli und ruhigerer Gangart deutlich von diesem Punk-Hattrick.

Auch wenn Sages Plan, auf Tourneen zu verzichten, nicht ganz aufging, scheute er weiter die ganz große Bühne. Mehrere Einladungen Cobains, als Vorband von Nirvana aus dem Zwielicht zu treten, lehnte Sage dankend ab. Ihm schien seine musikalische Selbstverwirklichung immer wichtiger gewesen zu sein als der Jubel der Massen. Oder er war eben hart gekränkt, dass sich "Is This Real?" auf Cobains Albumliste 41 Plätze hinter The Shaggs einreihen musste. Also wirklich, da hatte die Grunge-Legende einen ordentlichen Schalk im Nacken.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Return Of The Rat
  2. 2. Mystery
  3. 3. Up Front
  4. 4. Let's Go Away
  5. 5. Is This Real?
  6. 6. Tragedy
  7. 7. Alien Boy
  8. 8. D-7
  9. 9. Potential Suicide
  10. 10. Don't Know What I Am
  11. 11. Window Shop For Love
  12. 12. Wait A Minute

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