laut.de-Kritik
Der Horror kommt auf leisen Sohlen.
Review von Toni HennigWas vor vierzig Jahren als Zufallsprodukt begann, als man Blixa Bargeld fragte, ob er nicht im Berliner Moon-Club auftreten wolle, entwickelte sich im Laufe der Zeit zum einflussreichsten musikalischen Exportprodukt aus deutschen Landen seit Can und Kraftwerk. Für die Einstürzenden Neubauten aber kein Grund, mit ihrem ersten regulären Studio-Album seit zwölf langen Jahren in verklärende Nostalgie zu verfallen. In "Möbliertes Lied" gibt der Sänger zu keyboardlastigen Wave-Tönen im Stile von The Cures "Disintegration" nämlich unmissverständlich zu Protokoll: "Ein großes Bett ist neu bezogen, frei schwebend installiert."
Das Lied stellt den Ausgangspunkt von der vierten Phase des Supporter-Projektes der West-Berliner dar, mit dem sie 2002 in Phase eins im Grunde das Crowdfunding erfunden haben: das Ergebnis einer anfänglichen Improvisation. Damit im Neubauten-Kosmos zwischen Klangexperiment und Pop ein neues Zuhause entstehen konnte, brauchte es aber auch Unterstützer, wie "Ten Grand Goldie" verdeutlicht. Jedenfalls verbinden sich auf inhaltlicher Ebene bestimmte Satzfetzen der Supporter, die in das Stück einflossen, mit Abstraktem, woraus sich ein treffendes Bild über den Ist-Zustand der Hauptstadt ergibt. Dazu ertönen rhythmische Schrottplatzgrooves, wie man sie von der Formation nicht anders kennt.
Die Präsenz Berlins macht sich auch sonst immer wieder bemerkbar. Dabei sollte zunächst ein Song Dreh- und Angelpunktes des Albums sein, der mittlerweile nicht einmal zu den B-Seiten einer der vier Singles gehört, die die Supporter exklusiv als Dankeschön erhalten. "Welcome To Berlin" haben die Einstürzenden Neubauten ihn genannt, der bissige und persönliche Rundumschlag auf die aktuellen Entwicklungen in Blixa Bargelds Geburtsstadt erschien aber für die Scheibe letzten Endes zu flach. Die Abwesenheit dieses Grundsteins ließ jedoch erst zu, dass sich eine differenziertere Betrachtungsweise über Berlin herausbildete. Gleichzeitig bewegte sich die Formation von Song zu Song immer mehr vom Zynismus weg.
So nahm die Platte letzten Endes überaus greifbare, songorientierte Gestalt an. Bester Beweis: "Am Landwehrkanal", wenn Blixa Bargeld die Ermordung Rosa Luxemburgs im Eden Hotel und die Versenkung ihres Leichnams im zweieinhalb Meter flachen Landwehrkanal besingt und um persönliche Erinnerungen aus der experimentellen Pionierzeit der Band ergänzt. "Wir hatten tausend Ideen und alle waren gut", lautet es zu beschwingtem Akkordeon und einem prägnanten Ostinato-Bassmotiv Alexander Hackes. Da schwebt nicht nur eine Prise Größenwahn, sondern auch ein Hang zum Schlageresken mit, so dass eine heitere und umarmende Hymne auf die Errungenschaften Rosa Luxemburgs und der Einstürzenden Neubauten herauskommt, die zum Mitsingen einlädt.
Nur trügt diese scheinbar unbeschwerte Idylle. In "Zivilisatorisches Missgeschick" legen die West-Berliner das, was einmal war, mit an den Nerven zehrenden Presslufthammer-Sounds und unerträglich lautem Schlagwerk endgültig in Schutt und Asche. Dem weicht eine trügerische Ruhe. Der Hörer bekommt es danach in "Taschen" zu märchenhaften Soundtrack-Streichern, süßlichem Glockenspiel und Taschen, die als Percussion-Instrumente dienen, in Anlehnung an Ghayath Almadhouns Gedichtband "Ein Raubtier namens Mittelmeer" mit einem gefräßigen "Ungetüm" zu tun. Der Horror kommt auf diesem Werk jedenfalls auf leisen Sohlen angeschlichen.
Besonders eindrücklich vermittelt dies "Grazer Damm", das gleichzeitig einen Bezug zu Blixa Bargelds Kindheit und zu den Schrecken der Nazi-Vergangenheit herstellt. Der mittlerweile 61-Jährige gibt an der bluesigen Gitarre begleitet von verhaltenen Percussion-Schlägen mit erzählerischen, bedächtigen Worten eine Geschichte über vermeintliche und reale Selbstmorde zum Besten, in der sich luzide Traumwelten und tatsächliche Geschehnisse zu einem verstörenden Bild über die Vergänglichkeit zusammenfügen.
Ebenso viel Vergänglichkeit klingt in "Tempelhof" durch, das als Beschreibung des Pantheons in Rom anfängt, die sich anschließend mit einem textlichen Streifzug durch das Gebäude des für lange Zeit stillgelegten Flughafens Tempelhof vermischt. Wenn man zu flirrenden Streichern und akzentuierten Harfen-Klängen vor dem inneren Auge die "Blätter auf den bunten Marmorboden" der "Vorhalle" fallen sieht und sich die Natur zurückholt, was ihr zusteht, steht das aber nicht nur symbolisch für den Verfall. Man gewinnt auch eine leise Vorahnung darüber, was eventuell einmal sein wird.
Diesen schmalen Grat zwischen Endlichkeit und Ferne hält das Titelstück zusammen. Zunächst steht man, wenn sich inhaltlich unterschiedlichste Assoziationen auftun, vor einem großen Rätsel. Gegen Ende fügt sich jedoch das abstrakte Puzzle und es entwickelt sich ein vielschichtiges Bild über die verschiedenen persönlichen Facetten des Homo sapiens, das vollkommen erscheint: "In der Unendlichkeit bin ich auch / Alles in allem / Unendlich oft vorhanden." Blixa Bargeld nähert sich dem Religiösen, während den unaufgeregten Klängen der jazzigen Percussions und des nachdenklichen Akkordeons etwas Tröstendes innewohnt.
Insgesamt bauen die klanglichen und lyrischen Komponenten dieser Platte nach und nach auf, so dass am Ende ein zusammenhängendes großes Ganzes bleibt. Dabei hat man die West-Berliner nur selten so kompakt und zugänglich gehört. Nur täuscht die Eingängigkeit nicht darüber hinweg, dass zwischen fragiler Schönheit und purer Hässlichkeit manchmal nur ein klitzekleiner Augenblick liegt. Das macht "Alles In Allem" zum besten Neubauten-Album seit Ewigkeiten.
12 Kommentare mit 16 Antworten
Sehr ausführliche Rezi, natürlich gibt's dafür 5 Sterne vom Rezensenten, ist ja schließlich ganz große Kunst. Die Neubauten gelten schon immer als unantastbar, obwohl eigentlich kaum jemand ihre Musik hört. Über weite Strecken ist der Krempel ja auch unanhörbar, wenn wir mal einen Moment lang versuchen, ganz ehlrich zu sein.
Es lässt sich nicht abstreiten, dass die Geräusch-orientierte Herangehensweise auf viele Musiker Eindruck gemacht hat (vor 30 bis 35 Jahren oder so, als Samples noch ganz neu waren und voll innovativ). Allerdings waren es dann auch andere Bands und Musiker, die das alles viel besser (auch zugänglicher) gemacht haben als die Neubauten selbst. Und so ist Blixa Bargeld bis heute als Person (oder vielleicht auch nur als Name) viel, viel bekannter als seine Musik. Insofern haben wir's hier mit einer Kunst zu tun, die für Künstler gemacht ist. Wie ein Haus VON Architekten FÜR Architekten, alles total futuristisch und neu, aber eben ansonsten von beschränkter Nachvollziehbarkeit, was dazu führt, dass es eigentlich keiner so richtig haben will. Alles irgendwie sehr beeindruckend, aber eben ein Ladenhüter, der am Ende in der Auslage stehen bleibt.
"Allerdings waren es dann auch andere Bands und Musiker, die das alles viel besser (auch zugänglicher) gemacht haben als die Neubauten selbst."
Ist ja wohl auch keine Kunst, in dieser Richtung zugänglicher zu sein. Das war glaub ich nie ihre Intentionen. Was meinst du denn beispielsweise für Bands?
Cleaner, das ist jetzt vielleicht deine Meinung, würde das aber nicht verallgemeinern. Ich bin jetzt kein Neubauten-Kenner, höre aber auch ab und zu "anstrengende" Musik. Es gibt halt so Künstler oder Alben, die kann man sich nicht ständig geben, vielleicht auch nur ganz selten, in den richtigen Momenten kommt der Sound dann aber umso besser. Zu behaupten, dass alle die Neubauten nur loben um intellektuell rüberzukommen ist halt auch Quatsch, zumal deren Tracks auch gerne auf DarkWave/Industrial-Parties gespielt werden, wo du jetzt nicht nur ein typisches Künstlerpublikum hast.
Spätestens mit dem Album "Tabula Rasa" von 1993 waren die Neubauten überaus hörbar. Ich wundere mich, dass man die Band immer noch mit Krach assoziert. So waren klassische Streicher schon Anfang der 90-er ein wichtiger Teil des Neubauten-Klang-Kosmos. "Krach" und Presslufthammer wurden immer mehr zu einem nostalgischen Zitat der Anfangszeit.
Ist ja auch gut so, der Schockeffekt von den Noise-Eskapaden zu Anfang hätte sich anders ja auch schnell abgenutzt und die Band wäre irrelevant geworden.
Blixa Bargeld hat selbst zugegeben dass er nur sehr selten Neubauten hört. Erfordert halt eine recht spezielle Stimmung.
Aber dadurch dass die Neubauten diese spezielle Nische füllen haben sie mehr Existenzberechtigung als viele andere Bands, die sich untereinander kaum unterscheiden. So sehe ich es zumindest.
Ihr Frühwerk war immens wichtig, aber man kann nicht 40 Jahre lang einfach nur Krach machen. Insofern finde ich die Entwicklung der Band erstaunlich und erfreulich. "Alles in allem" ist in der Tat ihr kompaktestes und wahrscheinlich bestes Werk seit "Silence is sexy".
Sehe ich auch so. Sehr stimmiges Album, dass man in keiner Sekunde als Kunstkacke um ihrer selbst Willen bezeichnen kann.
Das auf gar keinen Fall!
Bin scheinbar nicht Oberschicht genug um dem ganzen was abzugewinnen. Ist für mich tatsächlich eher Tutanchamun als tatsächliche Musik. Ganz schlimm.
https://www.youtube.com/watch?v=xB7tsVX6XmQ
Sag jetzt nichts gegen King Tut.
My man.
Danke @vonwelt. Hab mir schon Sorgen gemacht.
Unterschicht bleibt Unterschicht.
Wächst und wächst und wächst.
Wenn man sich den ganzen Schrott mal durchliest, der bei anderen als Deutsche Songtexte bezeichnet wird, könnte man weinen. Hier ist das definitiv anders. Mancher Song ist sicher zu verkopft und lyrisch sehr verklausuliert, aber die Ergebnisse sind ziemlich einmalig. Ich persönlich halte Blixa Bargeld für den vielleicht besten deutschen Songtexter. Man muss das nur mal mit einer Platte von Joachim Witt vergleichen und die Sache ist klar, denke ich.
Richtig. Ganz große Sprachkunst.
Der Vergleich zu von Lowtzow, der hier gebracht wurde, ist sicherlich berechtigt.
Ich kam in den späten 80ern mit „Haus der Lüge“ zu den Neubauten.
Krach, wie in den Anfängen, gab es da praktisch schon nicht mehr.
Ist ähnlich wie bei den Krupps. Die haben mal mit „Stahlwerksinfonie“ angefangen.
Sicher ist das aber trotzdem nichts, was man Sonntagnachmittag beim Familienkaffee im Hintergrund laufen lässt.
Aber bewusst, gerne auch mit Kopfhörer, zumindest für mich ein Genuss. Live in einer Location wie dem Theater am Marientor (DUisburg 2017) unfassbar gut. Man versteht den Text, der ein ganz wesentliches Element der Musik ist, aufgrund der guten Akustik und sieht zudem wie die Musik „gemacht“ wird.
Da fällt mir die 2004er Tour zur „Perpetuum Mobile“ ein, faszinierend wie die da mit Druckluft „gearbeitet“ haben.
Ich durfte sie mal in der Kölner Philharmonie live erleben und es war wirklich und ehrlich ein Genuß. Und die Solosachen mit Teho Teardo sind ebenfalls sehr hörenswert. Auch live eine kleine Bank, die zwei. Blixa ist da auch etwas lockerer gewesen und hat mal was aus dem Nahkästchen erzählt.
Tolle Texte, toller Hintergrund. Nur die Musik bleibt auf der Strecke. Vielleicht wären Bücher mittlerweile eher was für die Neubauten.
Ach ja, die Neubauten haben ganz am Anfang strukturierten "Krach" gemacht, dann alternative "Musik".
Jetzt spielen sie für ein Massenpublikum, das es nicht mehr gibt.