laut.de-Kritik

Riff-Salven und ungezügelte Energie: Eine wegweisende Lektion in Gewalt.

Review von

Angenommen, man hätte eine Zeitmaschine. Wohin sollte man damit als erstes düsen? Für Thrash-Metal-Fans ist der Fall klar: Vielleicht noch Baby-Hitler diskret ein Kissen aufs Gesicht gedrückt, doch dann geht's schnurstracks in die Clubs der San Francisco Bay Area Anfang der Achtzigerjahre. Dort feiert man die bis in die bierverklebten Haarspitzen motivierten Jungspunde von Exodus, Testament, Death Angel, und Metallica ab und erlebt hautnah mit, wie sie die erste extreme Form des Heavy Metal aus der Taufe kloppen.

Schneller, aggressiver und härter als alles, was die alte Garde um Black Sabbath, Judas Priest und Iron Maiden vorgemacht hatte. Eine herrliche "lesson in violence".

Und wenn man als Zeitreisender schon mal in der Gegend ist, kann man sich gleich im Umfeld von Exodus einnisten. Natürlich nicht aus Eigennutz, sondern um den Jungs im entscheidenden Moment in den Arsch zu treten. Denn nur so ließe sich die alte Frage klären: Was wäre passiert, hätten Exodus ihr Debütalbum "Bonded By Blood" unmittelbar nach den Aufnahmen im Sommer 1984 auf den Markt geschmissen? Also zeitgleich mit Metallicas "Ride The Lightning" und noch vor der ersten Megadeth-Scheibe. Wären Exodus dann ebenfalls in die erste Garde, die Big Four des Thrash vorgestoßen? Eine Stadionband geworden, größer noch als Slayer? Und was hätte das für ihre Karriere bedeutet?

Bis Metalheads das Raum-Zeit-Kontinuum knacken, bleibt all das reine Spekulation. Denn bekanntermaßen verzögerte sich die Veröffentlichung von "Bonded By Blood" wegen Problemen beim damaligen Label Torrid um fast ein Jahr. Eine Tragödie? Kein bisschen. Die neun darauf vereinten Songs entwickelten sich auch so zu Hymnen und nehmen heute den ihnen gebührenden Platz ein.

Kein Mensch würde Exodus-Gitarrist und Hauptkomponist Gary Holt widersprechen, wenn er vor einigen Jahren dem "Metal Hammer" über das Debüt sagte: "Es ist ein Meilenstein und ich bin stolz darauf, was wir geschaffen haben. Alles daran ist richtig, nicht nur für die damalige Zeit, sondern für alle Zeiten." Amen, Bruder!

Als Hauptkomponist darf Holt natürlich unendlich stolz auf "Bonded By Blood" sein. Das Riff-Gewitter, das er zusammen mit Rick Hunolt abfackelt, macht heute noch sprachlos. Ob Geschredder, Midtempo oder Soli, das H-Team lässt die Saiten ohne Gnade glühen. Im Rücken sitzt den beiden eine ebenfalls mächtige Rhythmusfraktion mit Schlagzeuger Tom Hunting, der unnachlässig die Thrash-Polka durchprügelt, und dem Bassisten Rob McKillop.

Und dann ist da natürlich noch der unvergleichliche ... nun, 'Sänger' trifft es ja nicht so richtig. Paul Baloff war mit einem enormen Charisma gesegnet, und als Rampensau sowie Partykanone live natürlich eine Macht. Durch die Platte schlägt er sich dagegen eher wie ein Betrunkener durch eine nächtliche Straßenprügelei: wild entschlossen, aber ohne nennenswerte Technik. Seine Stimme überschlägt sich, eiert und krächzt, doch der Lockenkopf vermittelt perfekt die unbändige Energie der jungen Band, und allein darauf kommt es an.

Pubertär-hirnrissige Textzeilen wie "Get in our way and we're going to take your life / Kick in your face and rape and murder your wife" zeugen von der juvenilen Bereitschaft, es mit der ganzen Welt aufzunehmen. Hier ging es darum, neue Grenzen des Extremen auszuloten, es allen Vorgängern und der in L. A. gerade aufkeimenden Hairmetal-Szene gleichermaßen zu zeigen. Die Kalifornier führen bei diesem Feldzug kein lyrisches Feingefühl mit, dafür richtig gewaltige Songs, die bereits alle Trademarks des neuen Metal-Stils aufweisen.

Der Titeltrack und "Exodus" schießen gleich im klassischen Protothrash-Galopp aus den Boxen, den Metallica schon 1983 mit "Kill 'Em All" entfesselt hatten. Im Refrain von "Bonded By Blood" setzt es die ersten Gang-Shouts, und wenn Baloff lautstark fordert "Bang your head against the stage" opfert man die Rübe nur zu gerne. Die Solos von Holt/Hunolt bekommt man blutüberströmt nur benommen mit, schon sind die Songs eingetütet. Kein Fett dran, alles ohne Umschweife auf den Punkt gespielt – eine Qualität, welche die Band in späteren Jahren leider zusehends schleifen ließ.

"And Then There Were None" verschiebt den Fokus erstmals aufs Midtempo, was aber nicht heißen soll, dass die Riffpower nachlässt. Man kann es nicht genug betonen: Hier werden Riffs gebolzt, als gäbe es kein morgen! Das lässt sich im ausgiebigen instrumentalen Mittelteil genießen, in dem ein krachender Blitz niedergeht und die Band offenbar neu elektrifiziert – ab da dominiert nämlich wieder die schnelle Gangart.

Dieses Feuer nehmen sie mit in das furiose "A Lesson In Violence", nach dem das Album eigentlich benannt werden sollte (nur war kein passendes Cover-Artwork zur Hand). Das wäre keine schlechte Wahl gewesen: Wohl einer der besten Thrash-Tracks aller Zeiten und so wahnwitzig, dass er locker auf Slayers ewigem Raserei-Refernzwerk "Reign In Blood" bestehen könnte.

Dass die Platte auch nach dieser Granate ihr Momentum beibehält, spricht für die außergewöhnliche Qualität: "Metal Command" und "Piranha" weisen zwar einige cheesy Lyrics auf, doch musikalisch knallt auch hier jede Passage rein. Da grölt man Zeilen wie "It's time to fight for metal tonight" ohne Hinterfragen mit. Wir sind ja nicht bei ollen Pathosbrüdern, ist alles nur 'good friendly violent fun'.

Dieses Motto galt auch für die Studioaufnahmen: Nachts floss der Alkohol, und in den Prairie Sun Studios ging so manches zu Bruch. Trotzdem hatten die Jungs das Album in nur zwei Wochen eingespielt. Es waren eben die Zeiten vor Pro Tools und unendlicher Möglichkeiten zur digitalen Studiohexerei.

Kreativ sein kann man ja auch analog: In "No Love" packen Exodus ein flottes, verspieltes Intro auf akustischen Gitarren, was das Riff-Festival kurzzeitig unterbricht. Danach halten sie sich wieder einmal länger im mittelschnellen Spektrum auf, genau wie im folgenden, mit eher hymnischen Parts aufwartenden "Deliver Us To Evil". Dass Baloff meist an der richtigen Tonlage vorbeikläfft, versteht sich von selbst und unterstreicht lediglich den Live-Charakter der Songs. Das rasante "Strike Of The Beast" beendet die Platte dann nochmals mit Schmackes.

Der kommerzielle Erfolg der Big Four mag Exodus verwehrt geblieben sein – auch wegen ständiger Besetzungswechsel und längerer Auszeiten –, doch der Thrash-Szene haben sie ihren Stempel mit ihrem Debütalbum auf ewig aufgedrückt. "Bonded By Blood" ist eine 40-minütige Machtdemonstration voller treibendem Schlagzeug, messerscharfer Riffs, unverkennbarer Shouts und vor allem ungezügelten Tatendrangs. Wer in den Metal-Annalen auch nur ein bisschen tiefer gräbt als an der Oberfläche, der weiß um die Sprengkraft dieser Platte. Wie meinte doch Baloff einst so schön undiplomatisch: "Metal rules, and if you don't like it ... die!"

Damit wäre eigentlich alles gesagt – hätten Exodus die Platte nach Paul Baloffs tragischem Tod 2002 nicht noch einmal neu eingezimmert. Das Remake erschien 2008 als "Let There Be Blood" und enthielt zum einen den Bonustrack "Hell's Breath", eine Hammett/Holt-Komposition, und zum anderen mit Rob Dukes auch einen etwas konventionelleren Shouter. Das Original bleibt trotzdem unerreicht.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Bonded By Blood
  2. 2. Exodus
  3. 3. And Then There Were None
  4. 4. A Lesson In Violence
  5. 5. Metal Command
  6. 6. Piranha
  7. 7. No Love
  8. 8. Deliver Us To Evil
  9. 9. Strike Of The Beast

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7 Kommentare mit 4 Antworten

  • Vor 4 Jahren

    Geil, definitiv ein Klassiker! Die Band letztes Jahr zwei Mal gesehen, beide Male fast das komplette Album live gespielt. Die Songs gehen auch nach 34 Jahren noch richtig aufs Fressbrett. Jetzt noch ein Meilenstein für Testaments The Legacy oder The New Order und alles wäre perfekt :D

  • Vor 4 Jahren

    So ganz hab ich nie verstanden, warum das Album als Meilenstein gilt. Mir fehlt einfach das Alleinstellungsmerkmal. Es ist Thrash 1.5: Schon eine Entwicklung gegenüber dem was war aber jetzt auch nicht der Quantensprung. In Sachen Härte hatten Slayer die Nase vorne, Megadeth die besseren Lieder

    Trotzdem: Es ist ein sehr gutes Album, Holt ein grandioser Axtschwinger und ich hör mir die Platte auch sehr gerne an. 4 von 5

  • Vor 4 Jahren

    85 war zwei Jahre zu früh für mich, bin erst ab 87 Thrasher geworden, ausgelöst durch die bereits durch einen Meilenstein geehrte Among The Living von Anthrax.
    Fabulous Disaster ist für mich DIE Exodus-Platte.