laut.de-Kritik

Umfassende Rückschau auf Bill Leebs 90er-Jahre-Nebenprojekte.

Review von

Front Line Assembly brachten letztes Jahr mit "Permanent Data 1986-1989" eine remasterte Sammlung ihrer frühen Alben auf den Markt. Nun folgt mit "Excursions 1992-1998" eine remasterte Kollektion, die zahlreiche Nebenprojekte von Mastermind Bill Leeb ergänzt um Bonusmaterial vereint. Jede Scheibe kommt in einer eigenen Hülle und mit Linernotes des Musikjournalisten Dave Thompson daher. Leider fehlen die Platten des Techno-Projektes Intermix und die Noise Unit-Scheibe "Drill", um das Gesamtpaket komplett zu machen. Dennoch hat man mit diesem Paket schon eine ganze Menge Content vorliegen.

Mit Noise Units "Strategy Of Violence" (5/5) knüpften Bill Leeb und FLA-Kollege Rhys Fulber, der sich auch an den beiden Folgewerken beteiligte, 1992 mit infektiösen Basslines, verzerrten Vocals, dystopischen Keyboards sowie gelegentlichen Gitarreneinsprengseln nahtlos an den EBM-Sound von Front Line Assemblys "Caustic Grip" an, nahmen aber mit dem rein instrumentalen "The Passage" den Sound späterer Bill Leeb-Projekte wie Synaesthesia schon vorweg. Die Platte profitiert durch den neuen Mix sicherlich am meisten. Der knallharte EBM-Punch kommt nämlich noch besser zur Geltung als auf der Originalplatte.

Drei Jahre später erschien mit "Decoder" (4/5) ein sehr technoides, größtenteils instrumentales Album mit Betonung auf dystopischen Soundscapes. Die Platte enthielt einige Ideen des abgebrochenen Front Line Assembly-Werkes "Toxic". Trotzdem emanzipierten sich Noise Unit mit "Decoder" mehr und mehr von den EBM- und Electro-Industrial-Klängen, die man mit der Hauptband noch heute größtenteils verbindet.

Synaesthesia bezeichneten viele Fans etwas zu Unrecht als Delerium ohne Vocals. "Embody" (4/5) von 1995 wartete mit tribal- und weltmusikalischen Elementen auf, wodurch die Musik tatsächlich ein wenig in die Nähe von Delerium rückte. Zudem kamen Fans von Front Line Assembly mit Tracks wie "Alien Intruder" oder "Hemisphere" auch noch auf ihre Kosten, was die Synthesizersounds betraf. Im Vergleich zu den späteren Delerium-Alben schwang jedoch auf der Scheibe stets etwas leicht Bedrohliches mit.

Auf "Desideratum" (4/5), das in selbem Jahr erschien, verschrieben sich Bill Leeb und Rhys Fulber mit trancigen Rhythmen, deepen Keyboardsounds und spacigen Sequencertönen à la Tangerine Dream jedoch endgültig einer ganz eigenen Version von Ambient. Zwar hat die Scheibe gegen hinten raus ein paar wenige Längen, was sich bei einer Spielzeit von knapp zwei Stunden allerdings verschmerzen lässt.

Auf "Ephemeral" (4/5) von 1997, dem Höhepunkt des Projektes, widmeten sich Synaesthesia noch stärker tribal- und weltmusikalischen Klängen und zogen mit ihrer Musik den Hörer noch mehr in die Tiefe als in der Vergangenheit. Das nur wenige Tage zuvor erschienene "Karma" von Delerium verfügte über einen ähnlichen Spirit, wirkte aber insgesamt, schon aufgrund der weiblichen Vocals und den gregorianischen Gesangssamples, poppiger und für eine breitere Hörerschicht zugänglicher.

Im selben Jahr erschien mit Pro>Techs "Orbiting Cathedrals" (4/5) eine Platte, die schon die breakbeatlastige Ausrichtung der Front Line Assembly-Alben ab "Flavour Of The Weak", das nur zwei Wochen später auf den Markt kam, vorweg nahm, insgesamt jedoch etwas dancefloorlastiger und weniger experimentell ausfiel. Das dürfte aber auch nicht verwunderlich sein, da die Scheibe nicht mit Rhys Fulber, sondern mit Chris Peterson entstand, der auch ab "Flavour Of The Weak" zeitweilig Fulbers Posten bei Front Line Assembly übernahm. Insgesamt erweist sich das Album immer noch als recht spaßige Angelegenheit. "Communication", das nervige Sprachsamples durchziehen, bleibt allerdings ein Skipkandidat. Mit "Holon" (3/5) meldeten sich die beiden 1998 als Equinox mit einer Scheibe zurück, die mit einer recht obskuren Mischung aus experimentierfreudigen Drum and Bass-Sounds, wuchtigen Big Beat-Klängen sowie Funk- und Hip Hop-Experimenten aufwartete, aber auch so einige vergessliche Momente besaß.

Das Material auf der letzten CD fand man größtenteils schon auf der "Best Of Cryogenic Studio"-Compilation, wodurch sich die Nummern auch nicht unbedingt als Raritäten bezeichnen lassen. Dafür lässt sich die musikalische Entwicklung Bill Leebs von den noch eher geradlinigen Tönen seiner Hauptband zu Beginn der 90er bis hin zu seinen experimentierfreudigen Alben mit Chris Peterson Ende des Jahrzehnts hervorragend nachvollziehen. Vom restlichen Bonusmaterial dürfte das von Synaesthesia noch am spannendsten sein, da die "Ambiance"-Tracks noch um Einiges düsterer daherkommen als die Stücke auf den Studioalben.

Letzten Endes dürfte es für jeden EBM- und Electro-Industrial-Anhänger und auch Hörer, die eher die deeperen Ambient-Arbeiten Bill Leebs und Rhys Fulbers oder die späteren Front Line Assembly-Alben bevorzugen, keinen Grund geben, "Excursions 1992-1998" nicht zu kaufen. Zumal man für rund 60 Euro größtenteils Platten bekommt, die es in der Vergangenheit höchstens nur noch in gebrauchter Form günstig zu kaufen gab.

Trackliste

Noise Unit - Strategy Of Violence

  1. 1. Corroded Decay
  2. 2. Hollow Ground
  3. 3. Hate You Feel
  4. 4. Assault On The West End Girls
  5. 5. Carnage
  6. 6. Kick To Kill
  7. 7. Alle Gegen Alles
  8. 8. The Passage
  9. 9. No Soul, No Fear

Noise Unit - Decoder

  1. 1. Bahnhof
  2. 2. Innerchaos
  3. 3. Protector
  4. 4. Paradise (Dis)
  5. 5. Firing Line
  6. 6. Escape
  7. 7. Elixure
  8. 8. Biosphere
  9. 9. Ascent

Synaesthesia - Embody

  1. 1. Outland
  2. 2. Alien Intruder
  3. 3. New Horizons
  4. 4. Door To The Other Side
  5. 5. Hemisphere
  6. 6. Submerged
  7. 7. Floatation

Synaesthesia - Desideratum (CD 1)

  1. 1. Andromedia
  2. 2. Orion Nebula
  3. 3. Consciousness
  4. 4. Umbra
  5. 5. Barred Spirals
  6. 6. DNA Barcode
  7. 7. Surface System

Synaesthesia - Desideratum (CD 2)

  1. 1. Dark Core
  2. 2. Subversion
  3. 3. Lumia
  4. 4. Hallucinations
  5. 5. Mosaic
  6. 6. Lifeless
  7. 7. Tubastrea Aurea

Synaesthesia - Ephemeral

  1. 1. Nomads
  2. 2. Wasteland
  3. 3. Intelligence Dream
  4. 4. Entropy
  5. 5. Natural Forces
  6. 6. Naked Sun
  7. 7. Descartes
  8. 8. Ambience 1
  9. 9. Ambience 2
  10. 10. Ambience 3
  11. 11. The Flood

Pro>Tech - Orbiting Cathedrals

  1. 1. Pheromne
  2. 2. Erotic Ontology
  3. 3. Thread Four
  4. 4. Walls Of Ice
  5. 5. Recalcitrant
  6. 6. Eros
  7. 7. Communication
  8. 8. Re-Thread
  9. 9. Thread-Dead (Remix)
  10. 10. Erotic Onthology (Remix)

Equinox - Holon

  1. 1. Contact
  2. 2. Nova Man
  3. 3. Janus Effect
  4. 4. Phenomena
  5. 5. Binary Star
  6. 6. Funky Ass
  7. 7. Electronic Dreams
  8. 8. Remember Today
  9. 9. Horizon
  10. 10. Nova Man (Remix)

Bonus CD

  1. 1. Front Line Assembly - Equilibrium
  2. 2. Front Line Assembly - Transmutation
  3. 3. Delerium - Infra Stellar (Remix)
  4. 4. Delerium - Desert (Remix)
  5. 5. Delerium - Amnesia
  6. 6. Front Line Assembly - Mutate
  7. 7. Noise Unit - Penance
  8. 8. Noise Unit - The Drain
  9. 9. Front Line Assembly - Amorphous
  10. 10. Delerium - Ambience
  11. 11. Equinox - Contact (Hyper:Motion Remix)

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1 Kommentar

  • Vor 10 Monaten

    Eine umfassende Delerium-Box mit remasterten Fassungen, die es zum Teil schon gibt, wäre der absolute Hammer. Im Grunde brauchen aber "Semantic Spaces" und "Karma" nicht unbedingt ein Remaster, da die Originale schon sehr gut klingen.