laut.de-Kritik
Die Rüpel von der letzten Bank schlagen wieder Krawall.
Review von Tom KüppersDas neue Glassjaw-Album "Material Control" gehört - je nach Gewogenheit - entweder zur Abteilung "Geil, die sind tatsächlich doch noch am Start", oder eben "egal". Die-Hard Fans ergötzen sich in den vergangenen knapp anderthalb Dekaden seit dem letzten Album immer mal wieder an kleinen Informationsfetzen sowie diversen EPs und Singles, was den rund um die 1994 gegründeten New Yorker Band betriebenen Post-Hardcore-Kult weiter befeuert hat. Ganz anders hingegen ergeht es Otto Normalhörer. Für den fühlt sich "Material Control" ein wenig wie ein Klassentreffen an, bei dem er auf einmal wieder die Jungs trifft, um die er früher auf dem Schulhof einen großen Bogen gemacht hat.
Prinzipiell hat sich in den 18 Jahren seit "Worship And Tribute" und dem Debüt "Everything You Ever Wanted to Know About Silence" eigentlich nix verändert. Sänger Daryl Palumbo und Gitarrist Justin Beck bestimmen immer noch, wo es langgeht, und haben für ihr drittes Album zwölf Songs geschrieben, die nahtlos an die Vorgänger anschließen. Der bereits 2015 ausgekoppelte Opener "New White Extremity" verbindet derbe Rhythmusarbeit (Alter, was für ein Bass) mit dissonanten Riffs und den bekannt ausdrucksstarken Gesangslinien von Palumbo, dem Kollege Edele seinerzeit attestierte, er würde "... dem Hörer seine tiefsten Emotionen förmlich auf die Seele hämmern". Alles beim Alten? Fast.
Dass sich das Führungsduo Schlagzeuger Billy Rymer aus der The Dillinger Escape Plan-Resterampe ("Ausverkauf wegen Geschäftsauflösung") geschnappt hat, entpuppt sich als goldrichtige Entscheidung. Sein schon bei den Mathcore-Mutanten beeindruckender Stil passt musikalisch perfekt zu den vertrackten Kompositionen des Duos.
Auf "Golgotha" lässt er erst die Doublebass gnadenlos rattern, gleitet dann nahtlos in "Strange Hours" über, das als abgefahrener Jazz-Dub mit Bad Brains-Gedächnis-Vocals eine dringend benötigte Atempause ermöglicht. Die Ethno-Tribal-Jam "Bastille Day" verlängert diese dankenswerterweise, bevor "Pompeii" und "Bibleland 6" die Daumenschrauben wieder deutlich fester anziehen.
Doch es geht auch anders: "Shira" gerät mit einer Mixtur aus Quicksand-Strophe und Deftones-Chorus zu einer unerwartet eingängigen Angelegenheit, ebenso wie das nur knapp über zwei Minuten lange "Citizen". "Closer" paart Hardcore-Uff-Ta-Baller-Beats mit einem kranken, aber gleichzeitig fesselnden Refrain, das Finale von "Material Control" gestaltet sich dann mit unter anderem dem Titeltrack (einem obskur-coolen Lo-Fi-Loop) vergleichsweise zurückhaltend. Und nach etwas mehr als einer halben Stunde ist alles gesagt.
Glasjaw sind und bleiben - um erneut Herrn E. zu zitieren - "... keine Band, die man zum Abspülen hören kann ...". Auch einzelne Songs herauszupicken funktioniert nur bedingt, was in einer Playlist-getriebenen Musikwelt ja fast schon wieder als Protesthaltung interpretiert werden kann ("Making Albums great again", irgendwer?).
Auch wenn sich die Hörgewohnheiten in den letzten 15 Jahren an unterschiedlichste Extreme von Auto-Tune bis zu Black-Metal-Gekreische gewöhnt haben, muss man die rohen Batzen, die Glassjaw hier herausspeien, erst einmal verstoffwechseln. Aber lieber fordernde Kunst als formelhaftes Gesülze. Trotzdem muss man für "Material Control" in der richtigen Stimmung sein. Einnahmeempfehlung: Nach dem ersten Kaffee, sonst drohen beim Erstkontakt akute Gewaltphantasien. Die Rüpel von der letzten Bank sehen vielleicht etwas älter aus, Krawall schlagen sie aber immer noch ziemlich gut.
2 Kommentare
wow, früh dran
Album ist aber klasse!
EU-VÖ tatsächlich erst 12.01.?!
Egal, hab mir das auf Baudes Tipp hin "schon" vor 4-5 Wochen besorgt und nach besagter Verstoffwechselung als letzten Neuzugang in meine persönliche Jahresliste der besten Alben 2017 gestellt.
Was definitiv nicht bedeuten soll, dass ich mit dem Teil bereits endgültig durch bin und es fortan neben den Vorgängern im Regal verstaubt, derzeit präsent und auf Rotation in sämtlichen mobil einsetzbaren Abspielgeräten.