laut.de-Biographie
Hinterlandgang
Falls sich jemand fragt, wo genau das Hinterland liegt, das Pate für diese Gang hier steht: Albert Münzberg und Pablo Himmelspach halten damit nicht hinterm Berg. "Wir drehen am Rad, von Demmin bis Jarmen", beschreiben sie in "Ihr Kriegt Uns Nie" ihren Wirkungsbereich.
Allzu lange dauert es allerdings nicht, bis sich die Kunde des rappenden Duos auch außerhalb Mecklenburg-Vorpommerns herumspricht. Die Gefühle, die die Hinterlandgang auf Beats packt, kann tatsächlich auch eine Dorfjugend bestens nachfühlen, die nicht aus dem Osten Deutschlands stammt.
Niemand bestreitet jedoch, dass die Mixtur aus Tristesse, Zerfall, Perspektivlosigkeit und dem Eindruck, abgehängt und vergessen worden zu sein, deutlich davon geprägt wurde, wo Albert und Pablo herkommen. Die beiden kennen sich bereits seit Kindergartenzeiten, sie wachsen im mecklenburg-vorpommerschen Dorf Siedenbüssow auf.
Kindheit und Jugend verbringen sie in der nahe gelegenen Kleinstadt Demmin. Knapp über zehntausend Einwohner zählt das Hansestädtchen, das einst traurige Berühmtheit erlangte: In den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs nahmen sich mehrere Hundert Bürger*innen der Stadt aus Angst vor der anrückenden Roten Armee das Leben.
Zu DDR-Zeiten floriert hier zwar wieder die Kultur, nach der Wende bleibt davon allerdings nicht viel übrig: Arbeitslosigkeit und Abwanderung lassen die Region ausbluten, Angebote fehlen, gerade für die Jüngeren. Will man das Feld nicht den Faschos überlassen, die alljährlich in Demmin aufmarschieren, um die Erinnerung an die Opfer des Massensuizids für ihre Zwecke auszuschlachten, heißt es: dagegenhalten und selbermachen. Zwei Worte, die sich die Hinterlandgang genau so als Maxime auf die Fahnen schreiben könnte.
Zunächst gibt es die Crew allerdings noch gar nicht, nur zwei Jungs, die in ihren Kinderzimmern eine ganz neue Kulturform für sich entdecken: "Mit 14, 15 haben wir angefangen, Hip Hop zu hören", erinnert sich Pablo im Podcast von Urban Art MV. "Bushido, Kollegah, Farid Bang, solche Leute kamen in unserem Umfeld einfach nicht vor." Er beschreibt die immense Faszination, die diese Figuren auf ihn als Teenager ausübten, und sein Kollege ergänzt: "Das übertriebene Selbstbewusstsein dieser Rapper, das hat Klein-Albert voll abgeholt."
So richtig verstanden und repräsentiert fühlen sich die beiden allerdings erst später: von Feine Sahne Fischfilet, die aus derselben Region stammen wie sie selbst, und von Zugezogen Maskulin, die mit "Plattenbau O.S.T." einen Nerv treffen. "Vorher hatten wir nur Künstler gehört, die mit unserem Kosmos nichts zu tun hatten." Plötzlich jedoch sind da andere, die beweisen, dass die Provinz doch einiges zu bieten hat.
"Entscheidend war der Moment, als wir gemerkt haben, dass wir mit einer eigenen Stimme über unser Leben erzählen können", erinnert sich Albert gegenüber dem Katapult-Magazin an den Erweckungsmoment. Rap als Ventil bietet sich an. Er und Pablo machen ihre Herkunft zu ihrem Aushängeschild, geben sich den Namen Hinterlandgang und schreiben eigene Songs, in denen sie in ihren eigenen Worten ihre eigenen Themen abhandeln.
Insbesondere die eigene Wortwahl stößt hin und wieder auf Kritik. Die Hinterlandgang präsentiere sich "mackerhaft", heißt es, und zudem müssten ihre Texte politischer ausfallen. Über den ersten Vorwurf mag man diskutieren, es steckt halt schon viel oberkörperfreier, martialisch-männlicher Kampfsport in der Bilderwelt des Hinterlands, der manchem leicht sauer aufstoßen kann.
Wer aber behauptet, Albert und Pablo positionierten sich nicht entschieden genug, kann auch wirklich noch nicht einmal mit halbem Ohr zugehört haben. "Wir benutzen nicht das Vokabular der linken Bubble, aber als Personen und Künstler haben wir eine klare Haltung", betonen sie. Neben deutlicher Kapitalismuskritik bergen ihre Lyrics immer wieder klare Statements gegen Rechts. Zudem arbeitet die Hinterlandgang ganz handfest daran, neofaschistischen Gruppen das Wasser abzugraben, indem sie selbst Alternativen schafft.
"Du kommst nicht aus deiner Lebensrealität raus, wenn du nichts anderes vorgelebt bekommst", zeigen sie sich überzeugt. Es gilt, sich zu vernetzen, sich zu solidarisieren, den Leuten vor Ort etwas zu bieten, die lokale Wirtschaft anzukurbeln - und dabei bestenfalls auch noch Spaß zu haben: hehre Ziele, die sich verbinden lassen.
Inspiriert vom Vorbild der Kollegen Feine Sahne Fischfilet zieht die Hinterlandgang im August 2022 ihr eigenes Festival in Demmin auf. Nicht nur die Künstler*innen im Line-Up stammen größtenteils aus Mecklenburg-Vorpommern, auch für Bühnentechnik, Security und Catering entscheiden sich Albert und Pablo für lokale Unternehmen. Als Headliner treten Zugezogen Maskulin auf, mit deren "Plattenbau O.S.T." einst alles begann: Ein Kreis schließt sich.
"Für uns geht damit ein Jugendtraum in Erfüllung", schreibt die Hinterlandgang in einem Social Media-Posting. "Als wir Grim104 und Testo das erste Mal trafen, waren wir 18 Jahre alt und hatten vor wenigen Wochen das Demo unserer 'Intro EP' in Alberts Kinderzimmer aufgenommen. Als wir hörten, dass ZM ein Konzert in Greifswald spielen, dachten wir beide sofort: Wir müssen denen unsere Mucke zeigen!"
Genau wie Fleiß, zahlt sich Aufdringlichkeit offenbar aus: Es bleibt nicht bei dieser einen Begegnung mit den Idolen. Der 2016 via YouTube veröffentlichten "Intro EP" folgen erste Auftritte, und denen ziemlich flott eine Einladung von Waving The Guns, sie bei ihrem Gig in Greifswald zu supporten. Feine Sahne laden die Hinterlandgang, um auf ihrer Albumreleaseparty zu spielen. Auf einer eigenen des Duos, der zu "Spätsommertape", tritt Pöbel MC auf. Die Vernetzung scheint schon einmal bestens zu klappen.
Inzwischen haben Albert und Pablo auch eine ganz ordentliche Diskografie im Rücken: Der "Intro EP" legen sie zwei Jahre später ihr Albumdebüt "Ihr Kriegt Uns Nie" nach. 2019 folgen erst "Aufstand und Tristesse", dann besagtes "Spätsommertape". Das nächste Album, "Cocaine For The Kids", erscheint im Mai 2021.
Ein Jahr lang verbringen Albert und Pablo danach damit, Ideen zu sammeln, an Songs zu schreiben und nicht zuletzt damit, ihre Strukturen zu professionalisieren: Ihre Single "Tollense" entlassen sie im Sommer 2022 zusammen mit der Ankündigung in die Welt, fortan bei Audiolith unter Vertrag zu stehen. Natürlich soll ein Album folgen: "Maschendraht" erscheint im Oktober. Bis zum nächsten, "Rosa Mitsubishis", ziehen nicht einmal eineinhalb Jahre ins Land.
Verwurzelt bleibt die Hinterlandgang dennoch da, wo sie ihren Namen gefunden hat. "Wir hätten nach Berlin gehen können", resümiert Albert gegenüber Katapult. "Aber künstlerisch hat uns das nie gereizt. (...) Wir wollen uns selbst verwirklichen, und dazu haben wir in MV viel mehr Möglichkeiten."
Es dreht sich bei der Hinterlandgang ja auch nicht nur um fehlende Perspektiven und zerbröselnde Fassaden, sondern immer auch um Freundschaft, Solidarität, Zusammenhalt und darum, der Region, die einen hervorgebracht hat, etwas zurückzugeben. Wie Albert und Pablo schon Jahre zuvor dem Nordkurier erklärten: "Wir wollen das Lebensgefühl in unserer Musik verpacken. Mit den guten und schlechten Seiten. Es geht immer auch darum, dass du selbst etwas verändern kannst, wenn du an dich glaubst."