laut.de-Kritik

Free your freaky feelings! Das "I'm Every Woman" der 2020er.

Review von

Fünf Elemente von Disco-Soul faszinieren bis heute, auch wenn das Genre vor 44 Jahren seinen Gipfelpunkt erreichte und dann erst mal steil fiel. Jessie Ware knüpft an die besten Zeiten an und toppt auf "That! Feels Good!" ihren Vorgänger, den man als eines der wenigen euphorischen Dinge des ersten Lockdowns in Ehren halten muss. Vier von den fünf Zutaten gab's damals schon auf "What's Your Pleasure": weich tönende analoge Synthesizer, unerschütterlichen Optimismus, Jessies warme Stimmfarbe und etwas charmant Traumwandlerisches.

Jetzt kommt noch ein wesentliches Element dazu, das nur ausgewählten Disco-Stars wie Donna Summer und Diana Ross beschieden war: der 'Hallo-hier-bin-ich-und-ich-bin-die-Dancefloor-Queen'-Effekt. Es macht zwar stutzig, wenn die Financial Times in "Pearls" die "majestätische Gesangs-Attacke" Chaka Khans heraus hört, weil Chaka in ihrer wahren Funkyness viel zu viel naturbelassene Leichtigkeit hat, als dass man von einer 'Attacke' sprechen könnte. "Pearls" hat aber eine krasse Ähnlichkeit in Harmonien, Rhythmik und Drive mit "I'm Every Woman", das sowohl eine Chaka-Hymne (1978) war als auch ein Whitney-Hit (1993 zum Film "Bodyguard"), und auch einen Bezug zu Diana Ross hat, denn deren Stamm-Songwriter komponierten das unsterbliche Stück.

"Pearls" war bereits eine Single. Jessie selbst gibt zu, dabei von Chaka inspiriert zu sein. Aber auch, in einer komplett anderen Stimmfarbe, von Teena Marie. Jessies ungewohntes und unerwartetes Trällern in den Höhentönen und ihre Tonsprünge springen durchaus gelungen in die "I'm Every Woman"-Spur.

Gerade die Vorab-Songs zeichnen aber keinen treffsicheren Eindruck vom Album - so magisch und unstoppable "Free Yourself" auch bounzen mag, Ad Libs, Loops und ein saucool federndes E-Piano-Stakkato zelebriert. Auch eher noch zum üblichen Repertoire ließe sich "Hello Love" zählen. Das orientiert sich Bläser-angereichert am Prunk alter Motown-Produktionen - ein bisschen arg im Auftrumpfen mit Überfluss, Reichhaltigkeit und Glitzer in diesen Inflations- und Spar-Zeiten. Fürs hart hüpfende "Freak Me Now" hätte sich Jamiroquai sicher über ein Duett-Angebot gefreut, "These Lips" stampft den klassischen Kylie Minogue-Pfad entlang, aber in edle Sade-Cocktail-Kneipen-Atmosphäre gehüllt.

Die LP "That! Feels Good!" unternimmt in Summe aber noch viel mehr als gängige Erfolgsrezepte. Die Conga-Samples in "Beautiful People" wildern im New Yorker Acid-Dance-Underground ums Jahr 1980 und einer frühen Vorstellung von 'Jungle'. Speziell die funky flirrende Drum Machine kennt man außerdem aus Princes "1999"-Album ganz gut. "Freak Me Now" setzt auf breite Amplituden in den spiralförmig klingenden Groove-Beats, mit dem Effekt, dass manche Beats auf den tiefen und den ganz hohen Tönen stark nach vorne und die mittleren in der Tonleiter leise nach hinten gemischt wirken. Das sorgt für eine höchst elastische Dynamik und ist eine Steilvorlage für lebhafte Stroboskop-Lightshows, funktioniert immer wieder mal, siehe Daft Punk und Purple Disco Machine, verlangt aber etwas Geschick.

Große Teile unseres heutigen Electropop und House entscheiden sich für flachere, fast platt gebügelte Lautstärke-Verhältnisse. Das große Reich der analogen E-Pianos und Synth-Urgesteine bietet jedoch so viel mehr Spielraum als der ätherische Indie-Mainstream einer Hatchie oder einer Bat For Lashes ausschöpfen wollen würde. Jessie hingegen nutzt alles aus. Sie treibt, schiebt, drängelt uns zappelnd auf die Tanzfläche, bereits im Opener "That Feels Good". Da gestattet sie sich überschäumende Kieksigkeit und einen Saxophon-P-Funk-Abschnitt.

"Shake The Bottle" schießt dann sehr treffsicher aus dem Rahmen, aber mitten ins Herz aller, die von genereller Gleichförmigkeit in all den zahllosen '80er-Reminiszenzen der heutigen Musik genervt sind. Jessie Ware liefert frischere Ware, lässt ihre Stimme Salti schlagen, knüpft an Marina Diamandis' Klassiker wie "Hermit The Frog" an und vermählt Eighties-New Romantics mit Duffy-Soul, während "Lightning" Letzteres gegen Nineties-Trip Hop reibt und auf europäischen House-Pop à la Swedish House Mafia presst.

Auch wenn die Kochbuch-Autorin und Podcasterin Jessie Ware hier textlich sehr viel weniger Eloquenz bietet als in ihren anderen Produkten oder als beispielsweise die nächste Londoner R'n'B-Queen Raye, macht sie doch musikalisch etwas Einzigartiges: Sie serviert das Lebensgefühl der Sorglosigkeit aus der ursprünglichen Disco-Ära täuschend echt in einer Zeit der Dystopie, und sie hat dabei definitiv mehr 'echte' Soulfulness als die ganze Phalanx von Andrew Roachford über Lighthouse Family bis Mick Hucknall (bei aller Liebe zu allen dreien).

Trackliste

  1. 1. That! Feels Good!
  2. 2. Free Yourself
  3. 3. Pearls
  4. 4. Hello Love
  5. 5. Begin Again
  6. 6. Beautiful People
  7. 7. Freak Me Now
  8. 8. Shake The Bottle
  9. 9. Lightning
  10. 10. These Lips

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