laut.de-Kritik
Der Elder Statesman des Reggae vermeidet Reggae.
Review von Philipp KauseJimmy Cliff ist nach zehn Jahren Funkstille mit neuem Material zurück, und zwar (überwiegend) einem Themen-Album. Der 78-Jährige wirft einen kritischen Blick auf den Planeten, auf Menschenrechte und wie diese bedroht werden. Von Rassismus, von unwürdigen Zuständen für Kriegsflüchtlinge und vom Ausschluss vieler Millionen Menschen von humanitären Standards, aufgrund ungerechter Arm-Reich-Spaltung. "Refugees" heißt die Platte, weil sich, so Cliff, an dieser Arm-Reich-Kluft auch das Phänomen der Wirtschaftsmigration entzünde.
Über den Titeltrack sagt der Songwriter, der diesmal durchweg selbst textete und ko-komponierte: "Ich schrieb den Song aufgrund emotionaler Empfindungen, die ich habe, wenn Menschen ihre Freiheit weggenommen wird. Keiner von uns", so Jimmy auf seinem Instagram-Account, "sollte mit Gewalt, durch wirtschaftliche Umstände, Krieg oder Verfolgung gezwungen werden, unser jeweiliges Land gegen unseren Willen zu verlassen."
Bei der besagten Nummer ist Wyclef Jean in beiden Versionen an Bord. Er ruft in der überraschend frischen und sogar ein bisschen innovativ gemachten "Refugees (Dance Version)" den Grund für den Bandnamen Fugees ins Gedächtnis: "I'm a fugee, that's a refugee / my family paddled through the sea", exklamiert der Reggae-affine Hip Hop-Dude, dessen Familie aus Haiti nach New York übersetzte.
Nun macht eine Single in Dance-Ästhetik marketingtechnisch schon was her, insbesondere perfekt, geradezu aalglatt abgemixt, und elastisch, aber hart bouncend. Packt man dann den Namen Wyclef dazu, könnte sich die Musik in einem großen grünen Streaming-Service, profitabel getaggt, im Lauffeuer verbreiten. Wer aber denkt, das ganze Album präsentiere sich so wie der Titelsong, liegt grundlegend verkehrt. Rundherum ranken sich Country-Soul-Harmonien in "Here I Am", Skiffle-Pop in "Money Love" (beide gut), Folktronic in "Moving On", Easy-Going-Pop in "My Love Song" (beide schlecht). Die Fan-Gemeinde des Films "The Harder They Come" dürfte stutzen: Ist das der Jimmy Cliff, der doch eigentlich Reggae-Sänger ist? Ja, und er ist auch Jamaikaner.
Trotzdem ging er immer wieder fremd, jedenfalls aus Sicht der heutigen Verfechter*innen des zwanghaften Rasta-Purismus. Heißt, in Reggae-Szenekreisen wird der Release mutmaßlich untergehen oder sogar für Kopfschütteln sorgen. Angesichts der aktuellen Debatte um Dreadlocks und kulturelle Aneignung von Symbolen kann man gerade beim neuen Album nicht umhin, dieser Diskussion ein paar Schlussfolgerungen abzutrotzen. Beispielsweise schrieb die Wochenzeitung Die Zeit in ihrer Ausgabe vom 3. August, Reggae sei seinerseits immer eine Aneignung amerikanischen und afrikanischen Kulturguts gewesen, und entsprechend könnten sich nicht-karibische Heads weltweit eben auch die Haarpracht aneignen und Dreadlocks zur Schau tragen, ohne den Rastafari-Kontext authentisch zu fühlen - Kritik daran sei einfach zu woke.
Naja. Wie immer und in allen Nischen und Subkulturen, so gibt es halt auch im Reggae eine Form, die plakativ auf große Reichweite zielte, beispielsweise Bob Marley mit dem "Stir It Up"-Intro auf Rock-Fans. Toots gelang zwischen "Funky Kingston" und "Take Me Home, Country Roads", der Spagat von Funk bis Country. Terrains, die Jimmy nicht ausließ (wobei er damit nicht die Hits landete). Während umgekehrt Led Zeppelins kultiges "D'yer Maka" oder auch Kool and the Gangs freshe Produktionen für Jimmy Cliff von der anderen Seite her kamen, kommerziellere Stile mit Reggae ein bisschen alternativ-fancy machten und obendrein der Nische eine Plattform bereiteten.
Dabei würde der aktuell geführte Diskurs ihm eine Rap-Einlage theoretisch eher erlauben, gleichwohl aber keine Zusammenarbeit mit einem Blues-Gitarristen. Genau die macht Cliff mit Doyle Bramhall II (Tedeschi Trucks Band, Me'Shell N'dgeo'cello), und genau diese Nummer, "Here I Am", ist eine der besten auf "Refugees".
Was das Album etwas lahm wirken lässt, sind die vielen repetitiven Abschnitte. Die gehörten aber stets zu Jimmys Stil, zumindest im Studio: Passagen, in denen sich wenige Textzeilen in einer Dauerschleife drehen. Leerläufe mal beiseite, funktionieren manche neuen Stücke genial. Etwa "Bridges", eine Klavierballade. Sie erinnert in ihrer Schwermut und ihrem besinnlichen Herangehen an ein altes Meisterstück Cliffs, "Keep Your Eyes On The Sparrow". "Bridges" könnte so auch von Elton John stammen, womöglich auch kein Fall für die Pure-Roots-Polizei. Aber wunderschön gespielt, gesungen, getextet und mit einer sehr schönen Vocal-Soul-Einlage von Jimmys Tochter Lilty veredelt.
Sehr gut geht dem Reggae-Pionier auch die "Refugees (Rap Version)" von der Hand. Wyclef gibt hier andere Lyrics und Vorspann zum Besten. Jimmy singt: "Jesus Christ went to Egypt for refuge / The Israelites crossed the Red Sea for refuge", und holt mit historischer Spannbreite aus, um Migration als historisch etabliertes Thema auszuwalzen. "People running here and there for a home (...) Refugees seeking to be free, Refugees looking for safety (...) refugees seeking a better life lautet Cliffs Analyse der Aspekte, warum Leute fliehen. Dabei hat er den "Exodus from the Middle East to Europe, (...) from Africa to Europe" aus der Ferne genau im Blick. Der nachdrückliche, feste Track trägt als gute Grundlage für die hohen Vocals bei, die zu einer sirenenhaften Wirkung der vorgetragenen Botschaft führen.
Neben mehr guten als schlechten Songs gibt es mit "Security" auch eine mittelgute Nummer. Da scheint manches Riff aus "Take A Look At Yourself" und "Sitting In Limbo" von einst aus den early 70ern recycelt. Mehr als die nette, aber gefällige Musik bleibt Jimmys Anliegen haften, für das er sich mit dem Flüchtingshilfswerk der Vereinten Nationen zusammentat. Sicher, es stimmt, Songtexte und eigens erstellte Homepage haben Recht: Eine systematische alltägliche Lösungsstrategie im Umgang mit Asylsuche, Wirtschaftsmigration und Unterschlupf bei Kriegsflucht fehlt; man reagiert nur auf scharf zugespitzte Krisen.
Wenn Jimmy Cliff mit seinem Bekanntheitsgrad an diesem Punkt den Finger in die politische und soziokulturelle Wunde legt, ist mit dem "Refugees"-Album schon viel erreicht. Warum es trotz anderthalb Jahren Liegezeit seit der fertigen Abmischung nun weder auf CD noch Vinyl, sondern nur als mp3 erscheint und nur mit ein paar Tagen Vorlauf angekündigt wurde, zählt zu den vielen Rätseln des immer semi-professioneller werdenden Musikbusiness. So oder so, acht gute neue Tracks (darunter "Punus" mit Latin-Afro-Percussion) sind auch ohne amtlichen Hit einiges wert.
2 Kommentare mit einer Antwort
Öhm. Das Gute und Herausstechende an Cliff ist für mich, daß er eben nicht das macht, was man hier als "Reggae" wahrnimmt. Er ist vor allem immer ein Pop-Musiker gewesen. Im Gegensatz zu den 90% der Reggaekünstler, die sich mit dem ewig selben Groove und den ewig selben Akkordfolgen eingerichtet haben, hatte er nämlich gute Songs geschrieben, die zurecht immer wieder auch außerhalb des bekifften Rastafari-Niceness-Unity-Kontexts gespielt und gecovert wurden.
Außerdem ist er exzellent gealtert. Seine Live-Shows sind unheimlich gut. Ungehört Sterne von Sternen.
Mir scheint die Kritik genügend differenziert, was ich aber überhaupt nicht verstehe: Inwiefern spricht das Intro von Stir it up Rockfans an?
Diese Gitarre ???? wollte Chris Blackwell von Island wohl gern so haben, um im Classic Rock-Markt gut anzukommen.