laut.de-Kritik
Der Silver Surfer des Free Jazz gibt sich spacig und galaktisch flirrend.
Review von Ulf KubankeFür John Coltrane war das Jahr 1965 das vielleicht produktivste seiner Karriere. Von Dezember 1964 bis zum Ende des folgenden Jahres entstand Material für nicht weniger als fünf Alben. Obwohl sein Evergreen "A Love Supreme" stets mehr Beachtung fand, ist "Sun Ship" als nicht minder wichtiger Meilenstein auf seiner endlosen musikalischen Suche zu betrachten. Endlich gibt es die famosen Sessions komplett auf Doppel-CD.
Mit "A Love Supreme" mischte Coltrane Hardbop und Free Jazz. Das folgende "Ascensions" gilt als purer Kick Off für jene Fusion. Inspiration von Ornette Coleman und Coltranes eigener religiöser Spiritualität bleiben erhalten. Doch dem "Sun Ship" fügt er noch einen gehörigen Schlag Futurismus hinzu. Spacig und galaktisch flirrend wie das komplett wahnsinnige Genie der keimenden Szene, Sun Ra.
Wenn Sun Ra der Sonnenkönig ist, so ist der sich wieder einmal erneuernde Coltrane der Silver Surfer des Free Jazz. Die Sessions sind ihrer Zeit mal wieder voraus. Zwar liegt "Bitches Brew" von Kollege und Freund Miles Davis noch in selbiger. Doch auch ohne dessen angedeutetem, rockigen Unterton sprengt das Sonnenschiff alle Grenzen abgehärteter Hörgewohnheiten. Das umjubelte klassische Quartett Coltranes mit Jimmy Garrison am Bass, Drummer Elvin Jones und dem herausragenden Pianoman McCoy Tyner steuert das Publikum geradewegs in ein neues Sound-Universum. Alles zerlegt in expressionistische Klangtrümmer.
Dabei entsteht etwas Neuartiges, als hätte ein Maler gerade erst die Perspektive entdeckt und ein paar neue Farben gleich dazu. Alles atmet hier den unbedingten Willen, herkömmliche Harmonien zu überwinden, herkömmliche Muster zu durchbrechen. Schon der allererste Ton der chronologisch dargebotenen Session "Dearly Beloved (Takes 1 & 2 / False Start And Alternate Version)" hebt Coltranes Improvisationen auf ein neues Level.
Sein Saxophon klingt bei den lang gezogenen Noten hoch wie nie zuvor. Auch das oft einsetzende Vibrato taucht hier als Stilmittel erstmals auf. Spätestens beim Einsatz des zerklüftet perlenden Pianodramas von Tyner ist man der Platte bereits verfallen.
Der Pianist wird das Ensemble zum Jahresende verlassen. Man hört dem Album bereits phasenweise an, wie sich Tasten und Tenor-Sax in verschiedene Richtungen bewegen. Während Coltrane seine versengenden Attacken wie Sonnenstrahlen immer hitziger hinaus stößt, gibt Tyner meist den Gegenpart und streut ein paar Eiswürfel ins siedende Gebräu. Obwohl dieser Umstand zwischen beiden mehr und mehr zum Problem wird, zahlt sich das Tauziehen hier aus. Die Farbenpracht von "Sun Ship" erhält durch diesen Kontrapunkt so manche zusätzlich ausgereizte Nuance.
Die verschiedenen Takes von "Ascent" rücken Garrisons Bass ins rechte Licht. Seine Filigranität vereint sich mit einem für die damalige Zeit ultraharten Anschlag, der dem Instrument eine fast schneidende Schroffheit verleiht. Jones' polyrhythmische Trommelorgie - mal schlagend, dann wieder zurückgenommen - entfaltet vor allem auf dem Herzstück "Attaining" ihre Sogkraft. Lässig pusht er das Lied von bluesig-meditativ Schritt für Schritt zum veitstanzenden Inferno. Coltranes umhüllendes Melodiefragment verleiht der zerberstenden Schönheit als wiederkehrendes Thema das rechte Make Up.
Mit diesem spirituellen Klangerlebnis setzt Coltrane musikhistorisch ebenso ein bewusstes Zeichen gegen die zeitgenössisch aggressive Grundstimmung im Lande. Nach der Ermordung von Malcolm X steht die gesamte Black Community unter Schock. Sogar die Musikszene beginnt sich zu radikalisieren. Die ineinander fließenden und miteinander ringenden Noten des Visionärs aus North Carolina sprechen dagegen eine andere transzendentere Sprache von Versöhnung und Liebe.
2 Kommentare
Ihr solltet mal die neue Platte von Colin Stetson rezensieren. Ich finde die "New History Warfare" Trilogie ja klasse, aber Vol.3 stellt wirklich den Höhepunkt dar. Bestimmt das beste Jazz-Release, was ich seit dem letzten Christian Scott Doppel-Album gehört habe.
tolle rezension!
das john coltrane quartett ist mit das genialste, das das 20 jahrhundert herausgebracht hat.