laut.de-Kritik
American Outtakes: Verschollene Songs aus dem Jahr 1993.
Review von Michael SchuhAuch wenn die KI eifrig dran ist, uns eines Besseren zu belehren: Wer tot ist, kann keine neuen Songs mehr aufnehmen. Von Legenden wie Johnny Cash existieren aber zum Glück zahlreiche Aufnahmen, die er zu Lebzeiten - aus welchen Gründen auch immer - nie veröffentlichte.
Aber wieviele? 2010 erzählte uns John Carter Cash, es gebe schätzungsweise noch rund 40 unveröffentlichte Lieder, die man beispielsweise auf einen zweiten Teil der "Unearthed"-Box packen könnte. Das ist nie geschehen. Stattdessen beendete der sechste Teil "Ain't No Grave" im selben Jahr Cashs legendäre "American"-Reihe. 2014 erschienen noch 14 Songs aus den 1980ern auf "Out Among The Stars", danach wurde es auffallend still in und um Tennessee. Lediglich Live-Schätze wie "At The Carousel Ballroom" und "Koncert V Praze - In Prague Live" wurden gehoben.
Ob Cash Jr. damals schon wusste, dass noch Aufnahmen aus dem Jahr 1993 existieren, die sein Vater nie fertig aufgenommen hat? "Songwriter" versammelt jedenfalls elf Songs, die die Country-Ikone aufgenommen hat, kurz bevor ihm dieser verrückte Hip-Hop-Vogel Rick Rubin ein neues Kapitel seiner Karriere bescherte. Nur zwei davon ("Drive On", "Soldier Boy") schafften es im Folgejahr auf das erste "American Recordings"-Album. Dass die übrigen neun weit mehr als schwaches Material darstellen, stützt die Existenzberechtigung von "Songwriter".
Es muss an Rubins Konzept für "American Recordings" gelegen haben, das Cashs schwere Stimme mit populären Liedern anderer Musiker vermählte, die diese eigenen Tracks zurückdrängte. Allen voran den federnden Rockabilly-Song "Well Alright", der selige "Big River"-Zeiten hervorruft und obendrein mit einer klassischen Cash-Opening-Line auffährt: "I met her at the laundromat, she was washing extra hot / I said don't you need a little help with that big load you got?" Das von Cash bekannte, spitzbübische Lachen beim Singen bestimmter Zeilen darf in so einem herrlich leichten Lied übers Flirten natürlich nicht fehlen.
Bei melancholischen Songs wie "She Sang Sweet Baby James" oder "I Love You Tonite", die sich mit der eigenen Vergänglichkeit auseinandersetzen, bleibt einem dieses dann im Halse stecken. An seine große Liebe June Carter gerichtet, singt der damals 61-Jährige: "Can you believe we made it through the eighties? / And will we make the millennium? / Well, we might / I love you tonite". Auch hier entfährt ihm beim Aussprechen den Wortes "eighties" ein Lacher, der die gedämpfte Stimmung auflockert. In jenem Jahrzehnt hatte Cash nicht nur mit Suchtproblemen zu kämpfen, sondern auch mit Schreibblockaden, was auf "Out Among The Stars" nicht komplett verborgen blieb.
Schon in jenem fernen Jahrzehnt zählte Marty Stuart zur Band Cashs, so auch auf "Songwriter", zusammen mit Drummer Pete Abbott sowie dem letztes Jahr verstorbenen Kontrabassisten Dave Roe. Als Gäste hinzu kamen Countrysänger Vince Gill und Black Keys-Sänger Dan Auerbach, der dem düsteren "Spotlight" ein klassisches Blues-Solo spendiert. "Have You Ever Been To Little Rock?" fußt recht offensichtlich auf den bekannten Akkorden des Joe South-Klassikers "Games People Play", "Poor Valley Girl" thematisiert erneut June und die Carter Family.
Angesichts der bereits bekannten Songs "Like A Soldier" und "Drive On" stellt sich Co-Produzent und Profisohn John Carter ungewollt dem Infight mit Ex-Producer Rubin. Folglich beugt er sich so lange über die Arrangements, bis sie einerseits irgendwie nach den ganz frühen Jahren klingen, gleichzeitig aber alle Vorzüge eines sündhaft teuren Aufnahme-Equipments genießen.
Das Ergebnis sind tolle Songs, die vor allem von Cashs damals noch fester und ausdrucksstarker Stimme profitieren. Das psychedelische Gitarrensolo, das "Drive On" eine interessante Wendung verleiht, hätte er so sicher nie abgenickt. Spiegelt man beide Songs aber an den bekannten Versionen von 1994, erstarrt man beinahe vor den seherischen Fähigkeiten, die Rubin (der mit vorliegenden Aufnahmen nichts zu tun hat) vor 30 Jahren in der mythischen Figur Cash erkannte. Es brauchte eben gerade keinen extravaganten Technik-Feinschliff oder zahlreiche Gäste, sondern nur drei Akkorde, Johnny Cashs Stimme und die Wahrheit.
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