22. September 2020

"Ich lege mich gerne mit den Aluhüten an!"

Interview geführt von

Irjendwie der Wahnsinn: Im September 2020 erscheint mit "Alles Fliesst" das 20. BAP-Studioalbum – ein halbes Jahr bevor für Wolfgang Niedecken die 70. Geburtstagskerze brennt. laut.de-Autor Alex Klug trifft den Endsechziger auf schwimmendem Terrain – direkt am Rheinufer.

Kurz stehen die beiden Domstädter vor dem wohl kölschesten aller Luxusprobleme: Dank Heimvorteil hat Niedecken sich bereits am Morgen den begehrten Platz mit Domblick gesichert – bietet nach kurzem autorenseitigen Jammern aber freimütig einen Tausch an. Als heimlicher Vorstädter lenkt Klug aber ein und konzentriert sich lieber darauf, ein Interview zu führen, das sich nicht ausschließlich um die Corona-Pandemie dreht. Es sollte irgendwie funktioniert haben.

Hallo Wolfgang! Geht's dir gut?

Mir geht's gut. Ich fühle mich ja gerade wie kurz vor einer Geburt. Du fragst dich, welchen Weg das Baby nehmen wird. Und jetzt muss man nur noch zweimal schlafen, bis es endlich da ist.

Hand aufs Herz: Bist du schon genervt davon, in Interviews ständig über Corona quatschen zu müssen?

Ach eigentlich nicht, es ist ja ein Thema, das alle Leute beschäftigt. Es passiert ja auch von Tag zu Tag was Neues. Gestern habe ich zum ersten Mal in den Nachrichten gesehen, dass nächstes Jahr um die Zeit scheinbar ein Impfstoff verfügbar sein soll. Da habe ich mich echt sehr drüber gefreut. Das kam auch so glaubhaft. Das war jetzt nicht irgendwie so ein Putin-Impfstoff, sondern eher so ein ...

... Licht am Ende des Tunnels?

Ganz genau.

Lass uns trotzdem mit einer Non-Corona-Frage starten: Könntest du dir eigentlich noch ein Leben ohne Schnäuzer vorstellen?

Das kann ich mir nicht mehr vorstellen. Dabei war das ja ein Zufall. Nach meinem Schlaganfall konnte ich mich nicht mehr rasieren. Das wäre ein Gemetzel geworden. Du wirst es ja wissen, da muss man sehr sensibel sein, sonst hast du nachher eine Hälfte ab und musst ihn ganz abmachen. Und irgendwann sagten meine Damen – vorher war das immer ein No-Go – "lass doch mal ein bisschen davon stehen". Ach!

Zum Thema: Erst mal Gratulation zu – laut Pressetext – Album Nummer 20! Aber klär mich mal auf, ich komme nur auf 18.

"Radio Pandora" sind zwei (plugged und unplugged) und "Dreimal Zehn Jahre" (Best-Of mit vollständigen Re-Recordings) ist ja auch ein Studioalbum. Das waren alles verschiedene Studiosessions, da sind jetzt keine Live-Alben und Compilations mit drin.

Eigentlich wollte ich mit dir ein Videoformat machen, in dem du gegen die App Shazam antrittst und deine eigenen Songs – inklusiver alter Obskuritäten – erraten musst.

Gegen einen Automaten? Ne komm, da verliere ich ja gnadenlos.

Würdest du vieles nicht mehr erkennen?

Ich würde wahrscheinlich schon ins Schlingern kommen, wenn du mich fragst, auf welchem Album welches Stück ist. Es sind einfach Unmengen an Zeug – aber das ist natürlich auch ein Luxusproblem, wenn du eine Setlist zusammenstellst. Du weißt: Ein Drittel müssen "Big Hits" sein, sonst ist die Laufkundschaft unzufrieden. Du weißt aber auch, du musst mindestens ein Drittel etwas entlegenere Sachen spielen, sonst sind die Die-Hard-Fans sauer. Und vor allem hast du ja noch eigene Lieblingsstücke, die du spielen willst. Aber bei den letzten zwei Tourneen haben wir's echt gut hinbekommen.

Aber der Prozess ist kein leichter?

Ich mach das wirklich ganz oldschool-mäßig, ich habe dann so Täfelchen mit Stücken, die in Frage kommen und lege 30 Dinger immer hin und her. Wie ein Fußball-Trainer.

Aber du würdest schon sagen, dass bei 20 Alben auch einiges an Überschuss dabei ist?

Ja, natürlich.

Wann kristallisiert sich das so heraus? Ich nehme mal an, du hast ja jetzt schon im Kopf, welche Lieder von "Alles Fliesst" in die Setlist kommen.

Ich wüsste vor allem, womit ich anfangen würde. Von neuen Alben kann man ja maximal acht Songs spielen. Die Songs müssen direkt funktionieren. Wenn du den Leuten, die das Album noch nicht haben, mit zu subtilen Sachen kommst, dann gehen die Bier holen. Das ist natürlich auch bitter, aber na ja. "Ruhe Vor'm Sturm", "Mittlerweile Josephine", die würden auf jeden Fall gespielt werden. "Jeisterfahrer" denke ich auch. Und dann musst du gucken, was du gegen Ende noch von den Balladen spielen darfst. Aber jedes neue Stück verdrängt eben auch ein anderes – Luxusproblem. Kann ich mir erlauben, das Konzert mit "Wenn Ahm Ende Des Tages" zu beenden? Oder muss es doch wieder "Jraaduss" sein?

Aber es sind auch jetzt schon Songs dabei, wo du schon ahnst, dass sie niemals den Weg in die Setlist schaffen werden?

Das muss man erst mal erfahren. Manchmal vertut man sich auch, denkt, die Nummer geht jetzt tierisch ab – und dann passiert gar nichts. Ich hatte das mit "Wann Immer Du Nit Wiggerweiss" vom "Sonx"-Album. Ich mag das Stück total gerne, aber im Saal passiert dabei einfach überhaupt nichts.

Dann auf zu Corona: Vor Kurzem hast du auf Facebook ein bisschen auf den Tisch gehauen, dass du dir die BAP-Seite nicht mit Verschwörungstheorien zumüllen lassen willst. Später schriebst du dann, dass du die Ignoranten sowieso nicht erreichen kannst. Hättest du gedacht, dass eine der schlimmsten Ausgeburten der Corona-Pandemie ausgerechnet die virale Verbreitung von Fake-News werden könnte?

Da passt halt eines zum anderen. Jeder kann seine – teilweise sehr unqualifizierte – Meinung weltweit posten. Das ist ein Machtding und das zu verantworten, fällt eben vielen nicht leicht. Wenn ich sowas rauslassen würde, würde ich mich einfach nur schämen. Aber vielen Leuten ist das anscheinend egal. Viele sind ja auch sehr destruktiv und zynisch. Was mich aber gewundert hat, war die Resonanz auf mein sehr klares Statement. Wir fahren auf der Autobahn und ich sehe auf einmal diese ganzen Fremd-Postings von irgendwelchen Bots. Na gut, den Quatsch löschen wir jetzt mal. Und zack, die nächsten.

Und dann habe ich das geschrieben. Auch um einfach mal zu sagen: Wenn ihr demonstrieren geht, dann macht euch doch nicht mit Nazis gemein. Du musst doch merken, wenn du mit einer Regenbogenflagge dastehst und fünf Meter neben dir einer in Frakturshirt die Reichskriegsflagge schwenkt. Wenn zu Zeiten der Friedensbewegung da solche Leute mitmarschiert wären, die hätte man einfach entfernt. Und jetzt nehmen die das einfach so in Kauf. Da hat auch Toleranz mal ein Ende.

Mich schockieren die Fälle im eigenen Dunstkreis, wo Leute alles für eine große Regierungslüge halten. Aber was macht das Wissen mit einem, dass da teilweise Leute bei sind, die seit Jahrzehnten BAP-Fans sind und denen man ja irgendwie auch vieles verdankt?

Das befreit ja nicht von Irrtümern. Du trittst ja als BAP-Fan keiner Sekte bei, wo der Guru sagt, wo es langgeht. Viele sind halt naiv, da musst du nur mal aufs Facebook-Profil sehen. Da hast du von Katzenbildern bis NPD-Funktionären alles drauf. Die wissen ja nicht mal, was ein Aluhut ist. Das ist ein Begriff aus einem Zwanziger-Jahre-Science-Fiction-Werk ("The Tissue-Culture King"), wo sich die Typen solche Hüte bauen, damit sie nicht von irgendwelchen kosmischen Strahlen kontrolliert werden.

Viele haben sich da beleidigt gefühlt, aber es sollte nur eine fürsorgliche Ermahnung sein. Ich toleriere ja sogar irgendwelche spinnerten Ideen. Ich habe auch schon mal ein bisschen rumgesponnen, man vertut sich auch schon mal. Aber wenn jemand ankommt und sagt, er wäre ja immer schon "Nideggen"- und "Bab"-Fan gewesen, aber jetzt wäre das Maß wirklich voll, jetzt würde er seine ganzen Platten verbrennen (Anm. d. Red.: Wenn das wirklich jemand vorhaben sollte, meldet euch bitte erst einmal, falls "Pik Sibbe" und "Sonx" dabei sein sollten.) Da kann ich nur empfehlen: Guck dir doch bitte erst noch mal die Platten an, damit du weißt, wie die Namen geschrieben werden.

"Xavier gehört therapiert"

Apropos spinnerte Ideen: Ich weiß, dass ich dich mit dem Thema beim letzten Interview schon etwas genervt habe, aber es fällt schwer, in dieser Situation nicht darauf zurückzukommen. Wir sprachen 2016 über Xavier Naidoo, der meiner Meinung nach damals schon stark bedenkliche Thesen über Gott, die Welt und die Souveränität des deutschen Staats geäußert hat – eben solche Thesen, die inzwischen Menschen dazu veranlassen, sich mit Nazis auf eine Demo zu stellen oder sogar den Reichstag zu stürmen.

Stimmt, da haben wir drüber gesprochen (lacht). Da habe ich ihn noch in Schutz genommen.

Und jetzt?

Kann ich das nicht mehr. Alles, was ich in der letzten Zeit von ihm gesehen habe, fand ich sehr entsetzlich. Und das tut mir total leid. Ich habe ihn als unglaublich lieben Menschen kennengelernt, der so viel für seine Musiker tut – mal abgesehen davon, was für ein fantastischer Sänger er ist. Der könnte das Telefonbuch rückwärts singen, da ist einfach so viel Seele drin.

Trotzdem: Was da jetzt alles kommt … gut, man hätte es kommen sehen können. Als wir damals für "Sing meinen Song" in Südafrika waren, ist der uns schon allen ziemlich auf den Sack gegangen mit so Diskussionen, dass die Erde eben doch eine Scheibe sei. Ich bin dann aber schlafen gegangen. Solche Diskussionen ... wasting my time. Je nachdem, welchen Humor man hat, kann man so eine These in den Raum stellen und einfach mal gucken, was so kommt. So habe ich das damals gewertet. Aber der denkt das ja immer noch!

Denkst du, du hättest das früher ernst nehmen müssen?

Tja. Ich weiß noch, es gab da ein Gespräch, das war ja vor der US-Wahl 2016, wo er meinte: "Hillary Clinton, das geht ja überhaupt nicht, dann noch lieber Trump."

Ah, Pizzagate.

Ja, wahrscheinlich diese Nummer. Das habe ich damals zum ersten Mal so gehört. Aber der kifft auch ein Zeug, das biegt dir die Hirnwindungen wieder gerade, ich sag es dir – und zwar auf Kette. Das ist schon alles bitter. Aber ich sage dir: Der gehört therapiert. Und ich glaube wirklich, dass sich ganz viele Kollegen freuen würden, wenn er eine Therapie machen würde. Denn wir mögen den als Mensch alle. Er tut mir total leid.

Für mich hat das alles eine komplett neue Dimension erreicht, als ich dieses nachrichtenartige "Wissensmanufaktur"-Format mit Eva Herman und Xavier als Gast sah. Da sitzt einer der erfolgreichsten Sänger Deutschlands mit einer ehemaligen Tagesschau-Sprecherin und beide plauschen drüber, dass sie lange raus "aus dem System" und "den Mainstream-Medien" sind – und über "die letzten Atemzüge der BRD". Wie siehst du das in Bezug auf BAP-Fans auf deiner Seite? Sind da einige, die Corona leugnen, wirklich so raus aus dem System, dass du sie nicht mehr erreichen kannst?

Die werden ja auch irgendwann mal erwachsen. Letztendlich kannst du der Wahrheit nicht entkommen. Du musst ja nur mal gucken, in welchen Ländern es die höchsten Corona-Sterberaten gibt. Das sind bis auf Indien alles Länder, wo Populisten regieren. Da müsste man doch eigentlich mal drauf kommen. Dass es kein Grippchen ist, hat ja mittlerweile sogar Trump zugeben müssen. Wobei, er wusste es natürlich von vornherein.

Er kennt sich ja auch sehr gut mit diesen Dingen aus.

Eben. Ich finde aber, man sollte nie jemandem den Weg zurück versperren. Aber mich wundert schon, dass dieser Begriff "Mainstream" so verwendet wird. Der Begriff trifft für mich eher auf Spießer zu, die sich einen Scheiß für das interessieren, was ansonsten in der Kunst abgeht. Die wollen ihre Schlagermusik und Quizsendungen im Fernsehen. Sowas ist für mich Mainstream. Aber Qualitätsjournalismus ist doch nicht Mainstream. Ich bin großer Fan von Qualitätsjournalismus. Die Zeit lese ich jede Woche von vorne bis hinten. Ja gut, außer dem Wirtschaftsteil, ich gebe es zu. Ich will wissen, was ist.

Viele Kommentatoren werfen dir aber auch – nicht erst seit Corona – vor, dass du früher noch so richtig gegen die Politik auf die Kacke gehauen hättest.

Ich haue doch nicht des Auf-die-Kacke-Hauens wegen auf die Kacke. Ich lege mich gerne mit den Aluhüten an. Ich lege mich da auch noch ein paar Mal mit an, wenn's sein muss. Ich trete für meine Überzeugung ein. Und ich breche mir auch keinen Zacken aus der Krone, wenn ich sage: Merkel hat in der Flüchtlingspolitik 2015 etwas gemacht, wovor ich meinen Hut ziehe. Und das hat sie auch im Corona-Zusammenhang gemacht. Sie ist einfach überhaupt keine Populistin. Aber diese Populisten, die verachte ich. Leute, die einem nach dem Maul reden. Da konnte ich noch nie was mit anfangen.

Wie bricht man den Mythos auf, dass es in Corona-Zeiten vielleicht im politischen Sinne keine absolutistische Gegenkultur braucht, sondern dass einfach mal alle am selben Strang ziehen müssen?

Ich glaube, die meinen etwas anderes. Die wollen, dass man stellvertretend für sie etwas Widerborstiges tut. Die sind wahrscheinlich in ihrem Leben so angepasst, dass sie jemanden brauchen, der für sie auf die Kacke haut. Aber das tu ich doch nicht für die, ich bin doch nicht bescheuert.

"Zeitgeist, zum Monster mutiert, erntet jetzt, was er gesät" – "Ruhe Vor'm Sturm" ist wohl euer politisches Statement der Stunde. Tatsächlich hat aber ja beispielsweise die letzte Tournee mit "Drei Wünsch Frei" als Opener gezeigt, dass du früher immerhin noch etwas personenbezogener ausgeteilt hast – siehe "(Friedrich) Zimmermann in bunt". Ist dir so etwas beim Texten heute nicht mehr subtil genug?

(lacht) Ja, aber das ist ja schon fast museal. Ich habe sogar überlegt, das mal abzuändern. Aber das Lied ist eben so zu der Zeit entstanden und das nimmt man dann auch so. Dass nachts zur Geisterstunde irgendeine merkwürdige Hymne läuft – das war zu einer Zeit, als es nachts noch einen Sendeschluss gab. Zum Testbild lief damals allen Ernstes noch die Nationalhymne. Das gibt es alles gar nicht mehr. So alt ist "Drei Wünsch Frei".

Und heute?

Hey, Florian Silbereisen kommt zum Beispiel vor (im Opener "Hauptjewinn"). Das war einfach so ein Spruch, den habe ich mal in der Familie gebracht. "Beweisen? Ich muss überhaupt keinem mehr irgendwas beweisen" – Kunstpause – "noch nicht mal Florian Silbereisen." Zack, alle waren am Lachen.

Jetzt hast du mir meine wunderschöne Abschlussfrage vorweggenommen. Egal. Aber im Grunde möchtest du die Lieder politisch einfach etwas zeitloser gestalten? Zugeben, einen Zimmermann hätte ich ja ohne Googlen nicht mal gekannt.

Ja, genau. Ich mag das eigentlich aber auch bei den alten Liedern. Bei "Taxman" von den Beatles kommt zum Beispiel ein "Mr. Heath" und noch ein britischer Minister aus den Sechzigern vor. Ich fand das immer klasse. Also ich bemühe mich jetzt nicht, irgendwelche aktuellen Namen da reinzubringen. Aber wenn einer gerade passend kommt, dann ist er halt drin, fertig.

Aber du hättest jetzt nirgends das Bedürfnis einen Björn Höcke oder so reinzubringen?

Nein, nein, nein, viel zu viel der Ehre. Solche Typen verachte ich auch wirklich. So ein Zimmermann, das war ein konservativer Politiker, der einiges an Zeug erzählt hat, das mein Vater auch erzählen würde. Aber den habe ich ja nicht verachtet. So einen Höcke, den verachte ich. Wirklich.

Die Texte sind ja alle vor Corona entstanden. Denkst du, du hättest vieles anders getextet, wenn die Platte ein Jahr später entstanden wäre?

Da wäre wahrscheinlich was zum Thema gekommen. Aber das Album war ja vor einem Jahr schon fertig. Wir sind ja direkt nach dem letzten Gig in Bonn nach Dresden ins Studio gefahren. Einen Tag später haben wir angefangen, "Hauptjewinn" aufzunehmen.

"Metallica covern die Höhner? Find ich stark!"

Mal zum musikalischen Teil: "Lebenslänglich" trug ja teils schon noch deutliche Spuren der Unplugged-Konzerte.

Genau, weil ja "alles fliesst".

Korrekt. Ich hätte aber gerade auch nach deinen Americana-Solo-Alben gar nicht gedacht, dass ihr noch einmal eine so stark rock- und weniger songwriterorientierte Platte rausbringt. Andererseits erinnern mich die Brass-Elemente an "Aff Un Zo", die Trompeten teilweise an "Salzjebäck". Wie viel Oldschool steckt in "Alles fliesst"?

Ich bin ja oldschool, wobei, ich kann mittlerweile ja sogar ein iPad bedienen. Aber ohne meine Töchter und meine Frau könnte ich kaum mit meiner Kreditkarte umgehen. Natürlich bin ich oldschool. Also teilweise schäme ich mich da auch richtig für, fast wie ein Modernitätsverweigerer. Ich brauche Papier und Bleistift, um meine Texte zu schreiben. Ich könnte noch nicht einmal so ein Interview hier mit dem Handy aufnehmen.

Aber oldschool auf die eigene Diskografie bezogen?

Es gibt natürlich neuere Klänge bei Kollegen, die ich sehr mag, aber selbst so nicht machen würde. Die mich trotzdem berühren. Ich bin aber in erster Linie froh, dass Ulle (Ulrich Rode, Gitarre) und Anne (de Wolff, Geige u.m.) dieses Album so songdienlich produziert haben. Das war auch von Anfang an die Spielregel: Ich möchte ein Rockalbum. Aber trotzdem: Der Schritt vom "Live & Deutlich"-Album zu diesem Album – das muss auch wieder fließen.

Die Bläser bleiben, aber sind nicht so allgegenwärtig.

Genau, nicht so auf Teufel komm raus. Ulle und Anne sind da wirklich geschmacksfest. Wenn ich sage "das sind ja jetzt schon ein bisschen weniger Bläser", dann sagen die "da gehören aber auch nicht unbedingt welche hin." Das sehe ich dann auch gerne ein.

Die beiden haben sich ja auf den letzten Tourneen natürlich auch viel durch die alten Songs und vor allem durch die ursprünglichen Arrangements gewühlt. Denkst du, so kommen auch Reminiszenzen zustande?

Total, die beiden haben das total akribisch analysiert. Anne kennt mich ja jetzt auch schon seit 15 Jahren. Die weiß, wo ich drauf stehe und worauf nicht. Wenn ich mit neuen Leuten zusammenarbeite, kommen die dann auch manchmal mit Stücken an, wo sie genau weiß: "Da brauchst du ihm gar nicht mit zu kommen, sowas hasst der."

Stammt das Album denn musikalisch komplett aus der Feder der beiden?

Ulle hat 11 Stücke abgeliefert, schon nach der 2016er Tour. Ich kam aber erst anderthalb Jahre später dazu, mich wirklich damit zu beschäftigen. Dann kamen noch drei Stücke von ihm und Anne gemeinsam. Und "Wenn Ahm Ende Des Tages" kommt vom Micha (Michael Nass, Keyboard).

Würdest du das Album denn auch den Vollkasko-Desperados ans Herz legen, die so in etwa zu "Ahl Männer"-Zeiten ausgestiegen sind?

Auf jeden Fall! Diese ewigen Major-Heuser-Vergleichsdinger langweilen mich natürlich furchtbar, aber anscheinend muss das so sein. Es gibt die Leute, die sich eines Besseren belehren lassen und manche wollen halt einfach ignorant sein. Es ist doch völlig logisch, dass wir in der Besetzung deutlich musikalischer sind als Anfang der Achtziger. Das klang damals schon eher rumpelig. Man kann ja auf rumpelig stehen. Wir haben aber auch tolle Sachen in den Achtzigern gemacht. Mein Lieblingsalbum aus der Zeit ist nach wie vor "Zwesche Salzjebäck Un Bier", aber da ging es ja auch schon auseinander mit uns beiden.

"Alles Fliesst" wolltest du gerne songdienlich haben. Für wie zugänglich hältst du es denn selbst? Ich habe im Vergleich zu den letzten Alben etwas länger gebraucht, um richtig reinzukommen.

Das ist ja kein schlechtes Kriterium. Ich kenne das ja selbst, wenn ich mir ein Album zulege, auf das ich mich tierisch gefreut habe. Ich kann mich ja nicht mal zurückhalten, nicht direkt die Texte mitzulesen. Denkst du, ich hätte es beim letzten Dylan-Album geschafft, es einmal durchzuhören, ohne die Texte mitzulesen? Ich will direkt alles auf einmal, ich will alles erfassen. Als ich das Album dann durchgehört habe, war ich unglaublich happy, dass ich es mir nicht schönhören muss. Ich wusste direkt, es wird mich immer begeistern. Aber da hatte ich natürlich noch keine einzige Melodie im Kopf, das war nur so ein Gesamteindruck.

Gleichzeitig gibt's ja auch diese Soundcollagen- und Sprachsample-Schlagseite, die meiner Meinung noch viel mehr hätte ausgebaut werden können. Beispielsweise der alte Autoradio-Trick, wo beim Durchzappen plötzlich Rod Stewart erklingt. Eigentlich totaler Pink Floyd-Stil. Woher kommt der Ansporn zu solchen Experimenten – und warum erst so spät in der Karriere?

Wir hatten das ja schon mal, bei "Tonfilm". Aber das war diesmal Annes Idee. "Wollen wir nicht was mit Klangcollagen machen? Sag doch mal deine ersten musikalischen Erinnerungen." War mir direkt klar, "Pack die Badehose ein". Das war das erste Lied, das ich als Kind super fand. Dann der River Kwai March. Der Film lief damals, wir waren zwar noch zu jung, um ihn zu sehen, aber alle pfiffen den March. (summt) Und dann ein Kirchenlied, das wir immer singen mussten. "Wir sind nur Gast auf Erden", jeden Abend.

Dann noch die Frage: Erste literarische Erlebnisse? Klar, "Ansichten eines Clowns". Das Böll-Zitat hatten wir erst auch am Anfang des Albums, aber das war zu viel. Jetzt haben wir ihn ans Ende gepackt. Ich finde das ganz schön, vor allem nervst du damit keinen, denn das Album ist ja eigentlich schon zu Ende. "Hidden Böll" haben wir ihn ja genannt.

"Sie wissen zwar alle, dass ein Clown melancholisch sein muss, um ein guter Clown zu sein, aber dass für ihn die Melancholie eine todernste Sache ist, darauf kommen sie nicht", heißt es da. Der Promotext zur Platte spricht auch von dir als Melancholiker. Textzeilen vom "sich betrogen fühlen" ziehen sich durch das ganze Album. Steht die Altersweisheit da der Altersmilde im Wege?

Ich habe halt nach wie vor immer noch das Gefühl, dass viele Menschen belogen werden. Viele versuchen das auch mit mir, manche Leute kommen da teils mit Dingern an, das ist einfach beleidigend. Aber es ist so ein bisschen wie im Gangsterfilm: "Du weißt zu viel." Ich weiß einfach zu viel. Manchmal gibt man sich Illusionen hin, aber in der Regel lasse ich mir keinen mehr vom Pferd erzählen. Durch viele Situationen bin ich schon tausend Mal gegangen, auch wenn ich manchmal lieber unvoreingenommen wäre.

Aber zum Beispiel ein "Besser Du Jehß Jetz" ist dann niemandem konkret gewidmet?

Nein, nein. Mit dem Song habe ich eh gar nicht mehr gerechnet. Den hat mir Ulle genau an dem Tag geschickt, nachdem ich mit meiner Frau beim Metallica-Konzert im Stadion war. Ich habe mich sehr amüsiert.

Wie vertraut bist du damit?

Überhaupt nicht, ich kenne nur die Hits, aber ich mag dieses ganze Martialische eigentlich überhaupt nicht.

Aber Stadion können sie halt.

Stadion können sie, na klar. War auch gut, hat mir auch gefallen. Ich habe mich weggeworfen, als die diese Höhner-Nummer ("Viva Colonia") gespielt haben. Die haben ja auch eine Version von einer Thin Lizzy-Nummer auf einem Album, "Whiskey In The Jar". Und ich dachte erst, ach guck, jetzt spielen die wirklich Thin Lizzy, aber auf einmal kommen da die Höhner. Fand ich stark! Ach so ja, dann dachte ich einen Tag später, was schreibst du jetzt auf diese Nummer, das muss ja was Aggressives sein. Und dann habe ich überlegt, womit sind Menschen bei mir in Ungnade gefallen. Da habe ich mir meinen eigenen Frankenstein gebastelt. Aber das geht an niemanden im Speziellen.

Was ist dein Lieblingslied von Metallica?

Ohwei, das kannst du mich nicht fragen. Wahrscheinlich "Nothing Else Matters". Das ist dann aber wiederum wirklich Mainstream.

Noch ein Versuch: Was ist dein Lieblingsalbum von Pink Floyd?

"Wish You Were Here". Ich mag Pink Floyd überhaupt sehr, sehr gerne. Pink Floyd hören, am liebsten ganz alleine im Auto. So ein Opus am Stück hören, ohne nervös hin- und herzuzappen, mit Gebrutzel in der Pfanne ("Alan's Psychedelic Breakfast") und allem Drum und Dran. Ich war von Anfang an Fan, "The Piper At The Gates Of Dawn" habe ich rauf und runter gehört. Großartig.

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5 Kommentare mit 6 Antworten

  • Vor 4 Jahren

    Da weiß man, welche Klientel Metallica mittlerweile anspricht. Irgendwie schon alles immer nur so an der Grenze zu meinungsstark, man darf ja niemanden vergrellen. Wie die Altherrenrunde im Doppelpass.

    • Vor 4 Jahren

      Wie einst der Mönch, der die Magie des Waldes beschwor, und den Geist uns näherbrachte, zur Verbrüderung aufrief und den Armen etwas Brot hinwarf, um dann, wendeten wir ihm den Rücken zu, seine Goldkisten zu hegen und zu pflegen.

      Gegen des Königs Wort, hätt' er sich nie gerichtet. Im Zweifel wäre der Geist eine Verschwörung, der Krieg das einz'ge Mittel und die Armen nur Schmarotzer ward gewesen.

      Bedenket: Der, der das Gold hat, will stets, dass alles so bleibt wie's ist. Lasst euch nicht blenden, die Brotkrümel war'n von euch und sind zudem von gestern gw'esen!

    • Vor 4 Jahren

      Katze Katze Feeling

  • Vor 4 Jahren

    "Aber Qualitätsjournalismus ist doch nicht Mainstream. Ich bin großer Fan von Qualitätsjournalismus. Die Zeit lese ich jede Woche von vorne bis hinten. Ja gut, außer dem Wirtschaftsteil, ich gebe es zu. Ich will wissen, was ist."

    Ein Gedicht, lieber Wolfgang. Ein Jedicht.

  • Vor 4 Jahren

    So so, ich bin also ein Vollkasko-Desperado ;) Aber genau so wars bei mir. Die Ahl Männer fand ich schon grenzwertig. Danach war BAP leider für mich nicht mehr zugänglich. Aber die ersten vier Alben höre ich heute noch sehr oft und sehr gerne. Gut fand ich noch Wolfgang´s erstes Soloalbum mit "Maach et jood".

  • Vor 6 Monaten

    "Wie bricht man den Mythos auf, dass es in Corona-Zeiten vielleicht im politischen Sinne keine absolutistische Gegenkultur braucht, sondern dass einfach mal alle am selben Strang ziehen müssen?"

    Genau, und wenn es ums Klima geht muss auch endlich mal Schluss sein mit Gegenmeinungen! Diese absolutistische Gegenkultur zur herrschenden Regierungsmeinung ist geradezu faschistoid, immer wollen diese Querdenker eine andere Meinung als die richtige vertreten sehen.

    Dabei konnte man gerade bei Rona sehen wie es besser geht: auch der letzte Impfgegner hat spätestens nach dem fünften Booster kein Corona mehr gekriegt!

    • Vor 6 Monaten

      Da wirst du doch hier leider keinen mehr überzeugen Skeptisch. Die allermeisten sind in dieser grün angehauchten Mainstreambubble gefangen und wissen es selbst noch nicht einmal. Selber denken? Ist heute ein absolutes Fremdwort. Wie du richtig gesagt hattest: Rona zeigte es uns allen, aber wer wollte da eigentlich mal auch sehen?