laut.de-Kritik
In der Länge liegt die Kraft.
Review von Maximilian Fritz"Im Prozess seiner Fertigstellung offenbart ein Album nicht nur, was es geworden ist, sondern, vielleicht noch wichtiger, was es nicht geworden ist. 'All Melody' sollte über die Zeit hinweg vieles Verschiedenes sein und wurde auch viel davon, allerdings nie genau das, was ich geplant hatte", gibt Nils Frahm gewohnt nachdenklich zu Protokoll. Dem Hörerlebnis hat die nur in Teilen gelungene Umsetzung seiner Vorstellungen aber keineswegs geschadet.
Der 35-jährige Wahlberliner war nach seiner letzten Tournee 2015 vorrangig damit beschäftigt, sein Studio zu renovieren und vollständig seinen Bedürfnissen anzupassen. Das Albumcover entspricht der Relevanz der Aufnahmeräume: Sie lieferten Nährboden für eines der spannendsten elektronischen Alben seit Langem.
Beim ersten Durchlauf überrascht das deutlich erweiterte musikalische Repertoire, mit dem Frahm in "All Melody" zu Werke geht. Arbeitete er bislang, grob gesagt, mit einem Zweiergespann aus Klavieren und Synthesizern, das er auch mal um Klobürsten erweiterte, lud er sich für die neuesten Aufnahmen Gäste ins Studio ein. Das macht sich schon im Opener "The Whole Universe Wants To Be Touched" bemerkbar. Dort erklingt ein Chor und generiert einen filmisch anmutenden Einstieg.
Die Überleitung zu "Sunson" gelingt fließend, die stetig schwellende orchestrale Melodie mündet jäh in den Klängen von Frahms Synthesizer, der mit einer Kickdrum fürs rhythmische Grundgerüst sorgt. Stünde jetzt eigentlich schon ein fertiger Track zu Buche, gesellen sich auch noch panflötenartige Klänge zur Melodie, die sich zu keiner Zeit verdächtig machen, ins klischeebeladene Reich südamerikanischer Weltmusik abzudriften. "Sunson" wird so zu einem unruhigen, fast schon tanzbaren Stück, das eine Weiterentwicklung in Frahms Schaffen einläutet. Selbige Klänge ziehen sich auch durchs träge, intime "Human Range", in dem Trompete, Cello und sanfte Percussion zusehends hinter den dominierenden Chören abtauchen.
Nach dem Klavierintermezzo "Forever Changeless" folgt das Titelstück. "All Melody" ist der legitime Nachfolger zum überragenden "Says" von 2013. Hier baut sich die Spannung jedoch nicht behutsam auf, sie bleibt konstant auf einem hohen Niveau. Der stets tonangebende Synthesizer-Loop klingt anfangs milde, konkretisiert sich dann und stellt sich in den Dienst der Funktionalität. Mit zunehmender Dauer bricht er allerdings aus seinem Korsett aus und scheint sich fast zu verselbstständigen. Unterstützt von zappelnden Beats fesselt "All Melody" in jeder Sekunde und flaut erst nach knapp zehn Minuten ab.
"#2" legt allerdings sofort im Anschluss nach und beschwört mit den einleitenden Marimba-Klängen eine Jam-Atmosphäre im Sinne Nonkeens herauf. Deutlicher wird kaum mehr, wie gut Nils Frahm die Erweiterung seines instrumentalen Spektrums tut. Den finalen Teil bestreiten Frahm und sein Synthesizer dann selbst. Dort stellt er aufs Neue sein unnachahmliches Gespür für den perfekten Loop, den intuitives Klavierspiel bereichert, unter Beweis. Dass sich "All Melody" und "#2" derart gut ergänzen, ist übrigens kein Zufall: Schon bei den Live-Performances der letzten Jahre folgten sie stets aufeinander.
Diese außerordentlich gelungene Symbiose aber als Kern des Albums zu titulieren, erschiene dem Rest gegenüber unfair. "Momentum", ein erneut vom Loop getragenes Stück, beginnt mit sakral wirkenden Chorälen. Eine der vielen fließenden Überleitungen, dieses Mal von Vogelgezwitscher begleitet, mündet in "Fundamental Values", das der Verzicht auf elektronische Elemente auszeichnet und mit seiner ruhigen Gangart auf dem Album dieses Mal in der Minderheit bleibt.
Das letzte Epos, "Kaleidoscope", trägt eine treibende, rastlose Orgel. Diese tritt nach einer wiederholt pompösen Einleitung in den Vordergrund und produziert, gepaart mit sphärischen Chören, die sich ins Klangbild mischen, ein sogartiges Hörerlebnis. Zugleich liefert "Kaleidoscope" ein Musterbeispiel dafür, dass Frahms Melodien mit zunehmender Länge erst ihre ganze Kraft entfalten.
Nicht unzählige virtuose Momente, die Frahm zweifelsohne im Petto hätte, machen aus dem erstaunlich groovigen "All Melody" ein überragendes Album. Die Stärke liegt in seinem Sinn für fesselnde Arrangements, dem Talent, Klangteppiche Stück für Stück aufzubauen und verschiedenste Instrumente zu einem stimmigen Ganzen zu einen.
Besetzt der Pianist ohnehin schon eine eigene künstlerische Nische, entwickelt er seinen Sound auf kreative Weise weiter und erreicht mit der Öffnung seines Stils für neue Einflüsse eine nie dagewesene Vielseitigkeit.
12 Kommentare mit 3 Antworten
Schon vor dem Release habe ich nur Positives zu dem Album gelesen und diese sehr veranschaulichende und schöne Review weckt gerade noch mehr meine Vorfreude.
ich mag ihn und seine mucke. wird angecheckt
Geniestreich.
Ui, richtiger Hype hier. Noch nicht gehört, aber das ändert sich dann wohl bald. Bin gespannt
Ich mag den Sound an sich schon, doch in seiner Gesamtheit ist mir das Ding etwas zu langatmig und ereignisarm. Und gerade Instrumentalmusik ist mMn sehr auf intuitives und/oder viszerales Songwriting angewiesen.
Für mich die Platte des Jahres.