laut.de-Kritik

Leidenschaften und Ängste einer Generation in hörbarer Form.

Review von

"Ten" ist eine hymnische Kollektiverfahrung. Wer jemals seinen Fuß in eine alternative Disco gesetzt hat, wird festgestellt haben, dass man um gewisse Klassiker glücklicherweise nicht herumkommt: "Alive" und "Jeremy" sind die Smashhits der 90er Jahre. Was Mother Love Bone oder Soundgarden anrissen, ist in diesem Manifest des Seattle-Sounds ausdefiniert.

Für den anderen Grandseigneur des Grunge, Kurt Cobain, stellte Pearl Jam dann auch spätestens nach dem ersten Ten-Durchlauf die Große Hure von Babylon dar – die ganzen Scheiß-Solos, die überholte Ästhetik! - dabei vergaß er in seinen etwas gekränkt wirkenden Tiraden, dass Vedder sich nicht nur von The Who und anderen Mainstreamkonsorten beeinflussen ließ, sondern die Vaselines ebenso liebte. Dazu kam, dass die Komponisten Stone Gossard und Jeff Ament zuvor in der Band gespielt hatten, die später zu Mudhoney wurde. Alles also viel engmaschiger verknüpft als manche denken; und ein Glück für die verschworene Grungegemeinde, dass es zwischen Vedder und Cobain vor dessen verfrühtem Ableben noch zu einer Art Konsolidation kam.

Dabei ist "Ten" so ziemlich die Antithese zu allem, was den aufgeblasenen Rockzirkus von damals so ätzend gemacht hat. Es enthält statt koksbefeuerter Selbstbeweihräucherung mehr als ein Dutzend Bekenntnisse zum Selbstzweifel, die universeller und gleichzeitig persönlicher nicht sein könnten. Statt effekthascherischer Künstlichkeit Songtitel wie Ausrufezeichen: "Once". "Black". "Deep". "Wash". Einsilbig, undiskutabel und direkt.

Vedders Texte, so ehrlich wie die karierte Holzfällerhemd-Uniform, betasten mit großer Sensibilität Traumata und Ängste, die den Heranwachsenden in Seattle und Sindelfingen im Geiste vereinen. Die schonungslose Art, mit der Vedder sein Seeleninnerstes vor dem Haarsprayrock-betäubten Publikum der frühen neunziger Jahre auseinanderschält, muss in ihrer Intensität revolutionär gewesen sein. Man beachte nur mal die Bandbreite stimmlicher Variation, wenn Vedder "Wash My Love" singt. Er legt Talent, Bitterkeit und Teenage Angst so authentisch auf den Tisch, dass dem Hörer schwindelig wird zwischen mal mehr, mal weniger offensichtlich ausformulierten Geschichten von Inzest ("Alive"), Obdachlosigkeit ("Even Flow") und Selbstmord ("Jeremy").

Während die Stimmung mal wütend, mal schwermütig, zuweilen fast verzweifelt sein mag, ist sie nie mutlos oder gleichgültig. Die herzzerreißend dunkle Dramatik, die Vedder in seine Vocals im epischen "Black" legt, lässt jede selbsternannte Emoband zu einer aufdringlichen Pantomimentruppe verkümmern. Leidenschaftliche Musik als Katharsis: Das funktioniert gut mit harten Gitarren und unsauberen Produktionen, fragen Sie mal Ihre Punkband vor Ort.

"Ten" umweht nebenher eine Aura der absoluten Unmittelbarkeit. Seien die Songs auch durchkomponiert, durchstrukturiert und in Altherrenrunden mittlerweile salonfähig, weniger druckvoll und intensiv sind sie sicher nicht. Dass der Sound nicht behäbig wirkt, liegt vielleicht auch an der Tendenz der Band, sich mit Wahwahs und Feedbacks eher in Richtung Led Zeppelin zu verbeugen als die zuweilen verklemmt-metallische Schiene von Alice in Chains und Konsorten zu fahren.

Die andere, möglicherweise massenkompatible Seite von Pearl Jam wird in Cover und Albumtitel deutlich: Die Band ging ihren unerwarteten Erfolg im wahrsten Sinne des Wortes zunächst sportlich an. Das High Five in umgedrehten Basecaps auf der Vorderseite: Ein irgendwie putzig anmutendes "Pack ma's, Jungs", einer für alle und so weiter. Meine Freunde und ich stürmen das Musikbusiness! "Ten": Die Rückennummer des Basketballers Mookie Blaylock, an dem die Grunger einen solchen Narren gefressen hatte, dass sein Name um ein Haar für die ganze Band Pate gestanden hätte.

Für die frühe Band Pearl Jam bedeutet diese unbedarfte Herangehensweise: Sie findet ihren Ausdruck nicht in irgendwelchen Posen wie Breitbeinig-In-Lederhosen-Herumstehen oder zur Schau gestellter Aggression gegen sich selbst (Cobain, Iggy Pop) oder das Bühnenmobiliar (unzählige andere übersättigte Rockstars). Sie brachte die Songs ohne großes Gewese einfach auf die Bühne und zementierte ihren Ruf als legendär gute Liveband – war ja schließlich nur "eine Entschuldigung zum Touren", wie Vedder in rückblickendem Understatement das Debüt bezeichnet.

Bis heute hat sich das Album zehnmillionenfach verkauft und gerade mit seiner Zugänglichkeit dafür gesorgt, dass das Genre Grunge nicht nur eine flüchtige Randerscheinung im Collegeradio geblieben ist. Darüber hinaus dient es als veritabler Einstieg in den Alternative Rock at its best: Wer beispielsweise das funkige "Dirty Frank" mag, hört sicher auch mal bei den Red Hot Chili Peppers rein, und damit ist die musikalische Sozialisation schon halb gerettet.

Und während sich die Vereinigten Staaten für gruselig selbstgerechte Vedder-Blaupausen wie Creed längst mal offiziell entschuldigen könnten, hat "Ten" nicht nur als Teil der Seattler Big Four unzählige Leidenschaften und Ängste einer Generation in hörbarer Form kondensiert, sondern sich mittlerweile selbst als nie alternder Klassiker etabliert. Also bitte: Wenn das Classic Rock ist, dann ist die Welt in Ordnung!

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Once
  2. 2. Even Flow
  3. 3. Alive
  4. 4. Why Go
  5. 5. Black
  6. 6. Jeremy
  7. 7. Oceans
  8. 8. Porch
  9. 9. Garden
  10. 10. Deep
  11. 11. Release
  12. 12. Alive (Live)
  13. 13. Wash
  14. 14. Dirty Frank

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60 Kommentare mit 17 Antworten

  • Vor 13 Jahren

    NA ENDLICH!!! Scheiss auf Nevermind. DAS ist die Grungeplatte überhaupt!

  • Vor 13 Jahren

    starker text, absolut gerechtfertigter meilenstein. kompliment!

    der vollständigkeit halber: die alive-liveversion, wash und dirty frank waren auf dem original nicht drauf, sind eigentlich nur b-seiten. besonders wash hätte es aber sowieso verdient, auf dem album zu sein.

  • Vor 13 Jahren

    Schön und eben so wie ihr Name geschrieben, Fr. Locker! Ich dachte schon beim 2. Absatz, dass ich auf jeden Fall auf den einzig negativen Punkt an Pearl Jam, für den man sie aber nicht verantwortlich machen kann (Scott Stap... und eigentlich sämtlicher Standard-american-alternative-Rock nach 1997), hinweise - aber da kamen sie im letzten Absatz ja selbst noch drauf. ;)
    Eins fällt mir aber noch auf: Während viel von seiner Musik immer noch qualtitativ hochwertig daher kommt (Into the wild-OST!), wirkt Eddie Vedder in "privater Mission", also Interviews, öffentliche Ansprachen etc., auf mich mehr und mehr wie ein Alternative-Bono, geht das noch mehr Leuten so?