laut.de-Kritik
Enttäuschend in der Ausstattung, toll im Sound.
Review von Rinko HeidrichIrgendwann in den späten Neunzigern: Ich lackiere mir die Fingernägel mit Edding schwarz und höre mit lautem Schluchzen das immer noch große "Without You I'm Nothing". Irgendwann bittet mich mein Vater zu einem klärenden Gespräch ins Arbeitszimmer. Mit Angstschweiß auf der Stirn fragt er: "Sag mal, Rinko ... ähm ...", und schaut meine nicht minder mit Panik erfüllte Mutter an: "..bist du ... ähm ... bist du schwul?".
Meine lackierten Fingernägel verstören ihn ebenso massiv wie die hübsche Frau auf dem Poster, die ein Typ ist. Das streng heteronormative Weltbild bekommt Risse, und in einem Kaff wie Siegen sind damals schon lackierte Fingernägel ein Grund, möglichst schnell nach Schulabschluss zu verschwinden, bevor einen die Familie verstößt. Ich kann ihn mit einer am seidenen Faden hängenden Heterosexualität beruhigen und feiere insgeheim, wie sehr es mir gelingt, meine erzkonservativen Eltern mit einer gar nicht mal so einfallsreichen Rebellenphase abzunerven.
Die Musik von Placebo taugt seitdem nicht mehr wirklich für spätpubertäre Außenseiter-Fantasien. Auch, weil der Weg zum Pop und in die Stadien schon längst konsequent beschritten wird. "Never Let Me Go" von 2022 war, sehr zur Freude der langjährigen Fans, wieder eine kleine Rückbesinnung. Davor nahmen sich Placebo eine längere Auszeit: Bassist Stefan Olsdal verspürte keine Lust mehr zu touren. Privat passierte in dieser Phase, gerade bei Brian Molko, nicht viel Gutes. Die Kreativität schien erst mal am Ende.
Die sehr erfolgreiche Comeback-Tour gab der Band wieder den entscheidenden Impuls, es nochmals zu versuchen. Nach "Soulmates Never Die - Live From Bercy" und "Live In Pieces" folgt nun eine weitere Live-Dokumentation, erstmals auch auf Vinyl. Während "Soulmates Never Die" von 2003 die Hits der Frühphase abdeckte, legt die Live-Box "Collapse Into Never" den Fokus nun auf die jüngere Discographie. Von den älteren Alben schafften es immerhin "Bionic" (vom Debüt), "Infra-Red" ("Meds"), "Slave To The Wage" ("Black Market Music") und "The Bitter End" ("Sleeping With Ghosts") in die Tracklist.
So läutet das wuchtige "Foverever Chemicals" das Liveset ein. Die Audioaufnahme entstand beim Lowland Festival in Madrid, die beiliegende Blu-ray begleitet die Band bei ihrem Gig in Mexico City. Eine Kommentar-Soundspur gibt es nicht. Die Band wird Superstar-like vor dem Konzert durch die City in panzerschweren Autos eskortiert, kurz danach beginnt das Konzert. Irgendeine Zusatzinfo gibt es weder im Booklet noch auf der Disc. Für einen sehr stolzen Preis von knapp 100 Euro ziemlich erstaunlich, um nicht zu sagen enttäuschend.
"Soulmates Never Die" hatte immerhin eine Tour-Doku und allerhand anderes zusätzliches Material zu bieten. Der Sound des Konzerts kommt dafür sehr wuchtig und vor allem sehr gut abgemischt über die Soundbar. Immerhin waren mit den Produzenten Adam Noble (Placebo, Nothing But Thieves, Biffy Clyro) und dem deutschen Grammy-Gewinner Robin Schmidt (Amplifier, Liam Gallagher, Pixies) keine Unbekannten für Mixing und Mastering verantwortlich. Visuell gibt es wenig, was man nicht schon von anderen Konzertaufnahmen kennt: Begeisterte Fans in der ersten Reihe, während Brian und Stefan gut miteinander harmonieren.
Molko überzeugt sowohl in Madrid als auch in Mexiko mit guten Spanisch-Kenntnissen, und gibt sich für seine Verhältnisse schon nahezu redselig. Er hat mit dem Tod seines Bruder Stuart, zu dem er ein enges Verhältnis pflegte und der im August 2022 nach kurzer Krankheit starb, auch einen nachvollziehbaren Grund, nicht gerade den Sonnenschein zu geben. "Happy Birthday In The Sky" ist ihm gewidmet.
Ansonsten waren Placebo noch nie dafür bekannt, komplett zu eskalieren. Im Hintergrund sieht man kühle Videoleinwände. Die Make-Up-Artistin, die auch in den Credits auftaucht, leistet bei Molko ganze Arbeit. Den nicht ganz uneitlen Sänger darf man in makelloser Nahaufnahme und mit ordentlich Lidschatten bewundern, der Zorro-Schnurrbart bleibt natürlich Geschmackssache.
Die Bildqualität überzeugt ebenfalls und zeichnet sich durch eine schön knackige Schärfe, bei für Kameraleute gar nicht mal so einfachen, dunklen Lichtverhältnissen aus. Knapp zwei Stunden lang passiert so relativ wenig, der Fokus liegt klar auf der Musik und nicht auf diversen Gimmicks. Wir reden hier allerdings auch über zwei gestandene Männer in ihren Fünfzigern. Immerhin gibt es die Aufnahme aus Spanien auch auf den bekannten Musik-Streaming-Anbietern zu hören.
Wer noch über einen CD-Player verfügt: "Placebo Live" liegt noch "Live From The White Room" von einer Studioaufnahme aus London bei. 'Softpack Gatefold' nennt man das mittlerweile, liebloser Pappschuber trifft es besser. Hier gibt es keine älteren Songs, sondern sechs Tracks vom letzten Album. Die Songs klingen insgesamt etwas roher, und wer den Synthie-Sound als störend empfand, bekommt hier eine rockigere Variante geboten.
Schade, die Band so intim im Bild zu sehen, wäre feines Material für die Blu-ray gewesen. "Never Let Me Go" bleibt ein guter Mix aus den alten Placebo und dem durchproduzierteren Sound der neueren Alben. Die Platte ist auch einem Skeptiker wie mir, dem die zunehmend breitbeinige Phase nach "Meds" nicht so zusagte, mittlerweile ans Herz gewachsen.
Es wäre nur schön gewesen, hätten Placebo diese Liebe in Form einer hochwertigen Ausstaffierung der Box, die auch noch limitiert ist, erwidert. Für Vinyl-Sammler bleibt sie dennoch ein Muss, aber im Gegensatz zu "Boxset" ist das alles dürftig. Der hohe Preis ist nicht gerechtfertigt, auch, wenn es soundtechnisch absolut nichts auszusetzen gibt.
Der Fan wartet nun gespannt, was da noch folgen könnte: So schlummert in Internet-Archiven etwa noch das "Strange Medicine Bootleg", auch der legendäre Auftritt bei Rock am Ring 2006 böte sich für eine opulente Wiederverwertung an. So oder so werden wir hoffentlich demnächst mehr von Placebo hören. Ein Boxset muss es in Zeiten der Inflation dann aber nicht unbedingt sein.
3 Kommentare mit 4 Antworten
"auch der legendäre Auftritt bei Rock am Ring 2006 böte sich für eine opulente Wiederverwertung an."
JA! Den das war, wenn wir hier alle mal ganz ehrlich sind, auch das letzte gute Jahr für Placebo und einer der besten RaR Mitschnitte, die es gibt.
https://www.youtube.com/watch?v=Th1vCLC62f…
War sicher auch eins der letzten guten Jahre von RaR.
;-D -zumindest macht Lieberberg inzwischen einen guten Schnitt- wie man hört. Nach einer Doppelrochade hat er sich von 15 Mio Miete auf 3 Mio Miete runtertaktiert. Nicht unclever.
2006 war ich ebenfalls bei Rock im Park dabei. Das Line Up war einfach grandios. Unzählige grossartige Bands. Heute bist du froh, wenn2-3 davon dabei sind.
Hab da inzwischen gar kein Bock mehr drauf. Läufste erstmal ne Meile an Leuten vorbei, die ihren Alk vom Vortag über den Zaun reiern, um danach erstmal ne Meile mit dem ekelhaftesten Fastfood und Imbissessen abzuklappern, bis du überhaupt mal zu den Bühnen kommst. (Aber gut das war vor 15 Jahren wahrscheinlich auch schon so, nur das man da eben dicht mitten im Geschehen drin war)
Bühnentechnik und Show hat natürlich schon was. War das letzte mal 2019 bei Pumpkins und Tool. War schon was (SP da auch besser, als Tool)
Titel ist ne 10/10, kann man auch gut auf Alphapumper im Fitnessstudio anwenden.
rinko, wollen wir uns gegenseitig die nägel schwarz lackieren (warum k1 nagellack? eig) und uns dann heteronormativ die pimmelz saugen während wir placebo hören?