laut.de-Kritik
Vier Schwestern und acht geniale Hooklines.
Review von Philipp KauseDie Gruppe Sister Sledge stellt den unwahrscheinlichsten Spagat in der Popkultur dar. Zu ihrer Zeit absolut en-vogue, Symbol für Disco-Soul und auf der Höhe ihrer Ära, funktioniert ihre Musik als Paket zeitloser Classics. Und je mehr Sister Sledge in Mode waren, nämlich am meisten mit ihrem dritten Album "We Are Family" aus dem Winter 1978/79, desto nachhaltiger wirkt die Zeitlosigkeit. Vier von den acht Songs auf der Scheibe waren Singles, eine davon erst satte fünf Jahre nach LP-Release.
Alle diese vier Singles zündeten als Hit-Raketen, und zwar der synkopisch tänzelnde Titelsong "We Are Family", der Breakbeats-verwandte Funk-Pop-Opener "He's The Greatest Dancer", das hypnotisch geniale "Lost In Music" mit seinem unsterblichen Groove und "Thinking Of You" mit seinem überaus ansprechenden Harmonieverlauf und seinem beeindrucken rhythmischen Kniff.
"We Are Family" bleibt auch 45 Jahre später ein starkes Album mit lauter charismatischen einzelnen Zugpferden, Track by Track. Ein anspruchsvolles Werk aus der Sicht der Disco-Welle, gedroppt kurz vor deren Abebben im letzten richtigen Jahr, das in New York zur großen Phase dieser Modemusik zählt. Niveauvoll, das muss man etwa in Bezug auf die Instrumentierung begutachten. Das Clavinet in Stücken wie "One More Time", dort klangfarbentechnisch wie eine Gitarre eingesetzt, oder in "Easier To Love", schließt an die Musik Stevie Wonders an, wo dieses Tasten-Instrument zur Blüte reifte. Robert Sabino heißt der Musiker, der es bei den Sister Sledge so leidenschaftlich und anmutig spielt.
33 Personen, wenn man alle Lead- und Background-Vocals und Instrumentalist:innen zusammen rechnet, tauchen beim bestbesetzten Song auf, und mindestens stets über zwanzig. Natürlich waren sie nicht alle Familienmitglieder, doch Sister Sledge ist tatsächlich ein Sisters-Ding. Die vier Schwestern Joni Sledge, Kathy, Kim und Debbie Sledge sangen die Nummern.
Die eingängigen und blitzartig in die Beine fahrenden Riffs der Gruppe stammen leider nur auf dieser Platte von den Kollegen Bernard Edwards (verstorben 1996) und Nile Rodgers. Ihr Erfolg mit den ähnlich klingenden Chic, öffnet ihnen bei der Plattenfirma die Pforten für ein paar Freestyle-Freischüsse. So dürfen sie sich im Roster von Atlantic und den Tochter-/Partnerfirmen aussuchen, wer ihnen interessant erscheint, und mit diesen Artists den Chic-Sound in Szene setzen. Aretha, auch im Angebot, trauen sie sich mangels Erfahrung noch nicht zu, Sister Sledge schon. "We Are Family" firmiert daher als Album der Chic Organization Limited,
also von Rodgers Produktionsfirma.
Dabei hatten sich die Mädchen des Sledge-Clans an eine Arbeitsweise zu gewöhnen, die mit ihrer eigenen akkuraten Art auf den ersten Blick kollidiert. Zwei Welten - technisch perfekter Gospel-Chor versus lässige Club-Vibes - prallen aufeinander. Genau im nicht so einstudierten Gesang des First Try ruht das Geheimnis des Gefühlvollen und Magischen bei Sister Sledge in ihren Hits.
"Unsere erste Reaktion darauf, 'We Are Family' zu hören, war gemischt. Wir waren frustriert, dass wir's nicht im Voraus anhören konnten", beklagt Kim Sledge im Interview mit der Library Of Congress. "Wie auch immer, nach dem Aufnehmen von 'We Are Family' konnten wir die Strategie nachvollziehen. Sie wollten die Nuancen und das Aufregende von Spontaneität", so Kim.
Bernard Edwards unterschätzt den Anspruch der jungen Frauen an sich selbst. So gerät er bei den Aufnahmen wiederholt mit Debbie aneinander, die sich nun unter Zeitdruck mehrstimmige Arrangements überlegt. Bernard ist nicht so recht klar, was für einen Aufwand das bedeutet und was die Schwestern drauf haben. So bringt er zusätzlich die Sängerinnen von Chic mit ins Studio sowie Softsoul-Ikone Luther Vandross, den man prägnant in "You're A Friend To Me" heraus hören kann (by the way einem später von Alex Gopher gesampelten Tune). Weniger bewusst machen sich die Sisters, dass sie ein Part in einem Puzzle sind, das aus episch langen Intros und dann vorne platzierten Refrains besteht. Die erste Strophe setzt bei den meisten Liedern der Scheibe verblüffend spät ein - alles Strategie!
Der Titel-Track "We Are Family" überzeugt gleichermaßen als Club-Anthem, als ewiger Radio-Wohlfühl-Hit, als Signature Song für die Produzenten, als perfektes Lied, in dem die Teile wie ein lückenlos gelegtes Puzzle zusammen gehören, und als Marketing-Slogan. Wobei er eben mehr als einen Spruch claimt, sondern die Family einem vielfach größeren Publikum vorstellt. Die Vorgänger-LP der Sister Sledge war gefloppt, doch die Begeisterung der vier Schwestern ungebrochen.
Das gelegte Puzzle: Diese Beat-Struktur, diese Key-Layers, diese Wah Wah-Riffs, dieser Breakbeat, diese Kunst-Geigen und das mehr proklamierte als gesungene Intro mit den skandierten Worten "I got. all. my. sis.ters. with. me", rundherum Atmo mit Stimmengewirr und mitreißender frenetischer Begeisterung, mit diesem Cocktail können Sister Sledge nur punkten.
Jedes Einzelteil ist typisch Disco, modisch, angesagt, aber alles zusammen in seiner Art gewissermaßen der Blueprint toll gemachter Disco-Musik. Und jedes Einzelteil bis hin zur geschmackvoll eingesetzten Querflöte in "Easier To Love" hört man genau heraus. Teilweise, indem Rodgers mit der Links-Rechts-Belegung der Stereo-Kanäle so lang herum spielen ließ, bis alles seinen Platz hatte.
Weil die Sisters selbst gar keine Clubs in NYC besuchten, mussten sie glauben, was Rodgers und Edwards ihnen auftischten: "He wears the finest clothes / the best designers heaven knows / from his head down to his toes ... / Halston, Gucci, Fiorucci". Aus dem Rap und R'n'B der 2000er bis heute ist uns dieses Zur-Schau-Stellen glitzernder Namen bestens vertraut, zuletzt mit Rayes Sommerhit "Prada".
Die Wurzel des lauten Luxusmarken-Feierns liegt in "He's The Greatest Dancer", einem sportlichen Stück sehr nah am Chic-Sound und tief im Glamour. Wie Kathy die Markennamen und dann das französische "Créme de la créme" ausspricht, setzt dem eleganten Lied das ganz besondere i-Tüpfelchen auf.
Dabei ist die Prahlerei in einer wirtschaftlich angespannten Situation - man denke an den Niedergang der Autoindustrie in den USA - seinerzeit purer Eskapismus. Wie er wohl ausgesehen haben mag, der "Greatest Dancer"? Die Muppet-Show kommt im November '79 zu einer sehr klaren Vorstellung.
Irgendwie verdient die Nummer bei aller Liebe den süßen Spott der Muppets. Doch während speziell "He's The Greatest Dancer" eher ein kalkuliertes Auftragswerk von Atlantic Records war, als der künstlerischen Sehnsucht der Sledges zu entspringen, und es zu Spannungen in der Entstehung manchen Text-Details kam, geben die Charts dem Label sogar mehrmals Recht: Platz neun in den Staaten und sechs in England sind 1979 drin. Und Will Smith räumt eine Million Ladenverkäufe mit "Gettin' Jiggy With It" ab. Sein Lied basiert 1998 wesentlich auf dem Riddim von "He's The Greatest Dancer", erreicht in den USA die Spitze, in Deutschland Rang zwölf und in der Schweiz einen Platz 18. Ein Jahr später bedienen sich auch die Masters At Work des Klassikers.
Ganz Gospel-gemäß setzen die Sisters auf die positive Kraft, die von innen kommt, statt auf Angeberei und Materialismus. Wie Debbie Sledge auf Discover/Ticketmaster ausdrückt, transportiere "Lost In Music" da wesentlich authentischer die Einstellung des Sledge-Clans. Denn "Freude ist in unserem Leben so wichtig, weil auch in dem Gefühl von einem Lied, 'uplifted' zu sein, so viel Wahrheit steckt. Das ist so ehrlich! Klingt sentimental, aber wir sind alle sehr positive Leute."
Das Positive überstrahlt sogar die Lage der Clubs, Kirchen und Konsumtempel, die in den Lockdowns 2020/21 gleichermaßen schließen müssen. Der Song "Thinking Of You" aus dem Sledge-Album erlebt in dieser Zeit ein virales Revival, mit Hilfe der Instagram-Serie "Club Quarantine". Promis wie Michelle Obama, J.Lo und Oprah Winfrey erzählen eingeleitet vom Theme-Song "Thinking Of You ", wie sie die Pandemie meistern.
Der unglaublich energetische Ohrwurm baut auf coolen Percussion-Triplets an den Congas auf, verströmt eine warme und im Rhythmus tropisch anmutende Atmosphäre. Das Schlüsselwort lautet Ecstasy, meint hier aber nicht die Pille der 1990er, sondern die Ekstase des Verliebtseins und beschreibt Liebe in den schillerndsten Farbnuancen. "Without love, there's no reason to live, without you (...) I'm thinking of you, and the things you do to me / That makes me love you/ Now I'm living in ecstasy..."
Kathy Sledge teilt mit Kim, mit Nile und auch mit mir das Empfinden, dass es sich um ein sehr einschneidendes und zeitloses Lied handelt, das sich wohl als einer der besten Club-Songs ever rühmen kann. Es ist unser aller liebster Sister Sledge-Tune und Disco-Song von damals, und jeder Musikfan sollte "Thinking Of You" definitiv mal in der langen Album-Edit gehört haben. Kim bekennt, dass es ihre persönliche Garantie zum Glück gewesen sei, wenn sie diesen Song aufführten.
Dass Bassist und Rhythmus-Konstrukteur Bernard Edwards die Sängerinnen damals an der Gestaltung des Tracks nicht teilhaben lässt, bis eine Demo-Tonspur steht und sie somit vor vollendete Tatsachen stellt, zahlt sich im Nachhinein aus. Der Song wirkt so lebhaft und quirlig wie eine Live-Aufnahme. Und da kommen wir zum Punkt: Sister Sledge waren keine der vielen Session-Kehlchen, die Dance auf Geheiß ihrer Beatmaker trällerten, sondern charakterstarke Gesangs-Artists. Sie meinen, was sie singen, wirklich so. Sie sind mit Haut und Haaren dabei. In den meisten (kurzlebigen) Projekten der Disco-Wave war das anders. Oder erinnert sich jemand an die Namen der Sängerinnen von Baccara, Boney M., Silver Convention, A Taste Of Honey oder Ottawan?
Ein Beispiel für die Authentizität der Gruppe ist "Easier To Love" mit der Zeile "All this killing each other / you should be lovin' your brother". Das Songschreiber-Duo hatte von Atlantic etliche Infos über die Sängerinnen und ihre Biographien bekommen. Dazu gehört, dass sie als Kinder bereits von ihrer Oma Viola im mehrstimmigen Gesang trainiert wurden und die Oma in der Bürgerrechtsbewegung engagiert war. Den 'Brother' zu lieben, das bezog sich darauf und auch auf den christlich gläubigen Hintergrund der Schwestern, für die Nächstenliebe ein Wert an sich war. Die LGTBQ+-Bewegung hat natürlich im Titellied eine ähnliche Botschaft vernommen.
"Easier To Love", das sampeln Phats & Small, Masta Ace und Knxwledge. Warum die Botschaft des Stücks ganz zentral für die Sängerinnen ist, ordnet Camille, Debbies Tochter, die heute als Sister Sledge tourt, in einem Interview mit dem Country & Town House-Magazin ein: "Musik ist unser Nummer Eins-Storyteller durch die Geschichte hindurch, und es ist wichtig, den Generationen nach uns eine Story mit auf den Weg zu geben, nach der sie streben können. Ich hoffe, ich kann das mit der Musik so tun, wie meine Mom und meine Tanten es taten."
Bei "Thinking Of You" erproben Nile und Bernard eine interessante Schreibtechnik: Die Artists sollen bei einem persönlichen face to face-Treffen die Producer-Kollegen zum Fertigstellen von Songs motivieren. Und zwar durch die Art, wie sie drauf sind, durch ihre Ausstrahlung und Biographie. Bei diesem legendären Treffen ist der Präsident von Atlantic Records persönlich mit im Raum. Ein paar Monate später setzt sich diese Vorgehensweise mit "I'm Coming Up" und "My Old Piano" fort, die beide der Interpretin Diana Ross für "Diana" gewissermaßen als Spezialanfertigung auf den Leib geschrieben werden.
New Yorker Disco fertigte sich im Allgemeinen aus einem Baukasten-System, das man recht prototypisch bei Village Peoples Gay-Gassenhauer "Y.M.C.A." nachhören kann. Jenseits dieser kommerziellen Variante sog der Big Apple durch seine Nachtclub-DJs neue Strömungen der Ära wie Acid-Warehouse aus Chicago und die Go-Go-Musik Washingtons auf. Bemerkenswert ist, dass bei Sister Sledge zwar solche Vibes widerhallen, aber noch keine Rap-Einlagen vorkommen, was ja in New York sozusagen 'homegrown' gewesen wäre (2003 holen sie das Rappen nach).
1979 ist das Jahr der ersten Hip Hop-Aufnahmen, wie vor allem einzelne Singles belegen. Gerappte Alben gibt es zu der Zeit noch nicht. Das Ganze entwickelt sich als lokale Angelegenheit in der Bronx und angrenzenden Stadtteilen. Dafür lassen sich bei Sister Sledge ausgeprägte Spuren von Soul- und Jazz-Instrumentierung, Gospel-Harmonien und Rhythm-and-Blues nachweisen.
Dem Hip Hop liefern sie genau damit schon kurze Zeit später und bis heute regelmäßig Futter für Samples. 2022 benutzen Kaytranada und Anderson .Paak das Grundgerüst von "One More Time". Und zwar auf ziemlich interessante, entschleunigte und zerhackstückte Weise.
Dass Nile Rodgers in der Blüte des ersten Schwapps Synthesizer-Pionierleistung auf echte Streicher, organisches Klavier (oder Keyboards in "Somebody Loves Me") und in die Hand nehmbare Schlagzeugstöcke setzt, macht bei den Sledges schon einiges aus. "We Are Family" ist eine vollendete Hochglanz-Produktion. Eine der erfolgreichsten Scheiben der Clubmusik verdankt sich also nicht elektronischen Spielereien, sondern versierten Instrumentespieler:innen.
All diese beste Musik überzieht jeden Song. Den Trash, den wir heute oft mit dem Disco-Funk-Zeitgeist verbinden, weil irgendwelche Pseudo-Hit-Nächte mit D-Artists in dritten Programmen diesen Odeur dem Genre anhaften, den findet man bei "We Are Family" nicht. Auch die Nachfolge-LP "Love Somebody Today", von deren LP-Rückseite unser Porträt-Foto stammt, ist ohne das Chic-Laboratorium sehr guter Sound.
Dass Nile Rodgers seit 2012/13 auch in Indiepop-Kreisen als Guru der Advanced Electronics verehrt wird, ist eine seltsame, aber glückliche Wendung. Sie hilft, Platten wie "We Are Family" nicht mit dem Grabbeltisch-Schrott anderer Flohmarkt-LPs ihrer Ära zu verwechseln. Während Punk den Disco-Pop maximal kontrastierte, traten auch Sister Sledge mit ihrer Love Revolution für eine bessere Welt ein, für handgemachte Musik und für einen zeitlosen Einschnitt in der Geschichte der Popkultur.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
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