laut.de-Kritik
Morbide Chansons lassen den Poetry-Slam-Rap weit hinter sich
Review von Dominik LippeTaby Pilgrim versucht es mit Autosuggestion. "Alles wird gut, alles wird gut", säuselt sie mantraartig im eröffnenden "Up Up Intro". Die angekündigte "neue Ehrlichkeit" setzt sich jedoch rapide durch. Schon die Pressetexte zu "Nest" stellen sicherheitshalber eine Triggerwarnung voran, da es um Suizid und Traumaverarbeitung gehe. Nach eher humorigen Projekten mit Liser widmet sich die Essenerin als "Teil ihres Therapiefortschritts" einem "Parasit namens Bipolarität". "Hypomane Phasen und depressive Episoden stehen sich nicht nur lyrisch, sondern auch musikalisch gegenüber", kündigt sie an.
"Kalte Schulter" transportiert ihren ungeahnten Defätismus vor allem im Sound von Mrbx. Metall knallt auf Metall. Dumpfes Grollen dringt aus der unterirdischen Maschinenhalle nach oben. Die Hi-Hat vibriert wie der Deckel eines Kochtopfs, der unter ständiger Energiezufuhr droht, abzuspringen. Reibung entsteht zudem dadurch, dass Taby Pilgrim mitunter brutale Fantasien mit ihrer weichen Anime-Stimme vorträgt. So stampft sie nicht nur musikalisch, sondern wortwörtlich über missliebige Zeitgenossen hinweg, sofern die Rapperin sie nicht gleich als lebendige Guillotine dekapitiert.
Gewalttätig geht es auch in "Nie Wieder Luft" zu. Taby Pilgrim erzählt die Rache-Geschichte einer Reinigungskraft, die ihren übergriffigen Auftraggeber in dessen Badewanne auflöst. "Sie lauscht einem grotesken Glockenspiel, als die Schuld von seinen Knochen schmilzt", gestaltet sie ihr morbides Chanson aus, "Es zischt und spritzt und jeder Tropfen wird zu einer Deckenmalerei wie ein barockes Bild". Die Tonspur knackt und fängt tickend die zerrinnende Zeit ein. Und passend zu ihrer gleichmütigen Performance ertönt ein pfeifender Chor, der eine gruselige So-ist-halt-das-Leben-Gelassenheit ausstrahlt.
"Sexualisiert Mich" knüpft an die Thematik übergriffigen Verhaltens an. "Jedes Bild ist eine Legitimation, um mich zu steinigen. Wenn ich mit deiner Vorstellung nicht einig bin, darfst du mich ruhig beleidigen", beanstandet sie die Degradierung zum "Konsumgegenstand" durch ihre Mitmenschen. Statt das Thema wie viele ihrer Kolleginnen knallig zu verkaufen, schwebt Taby Pilgrim dabei erhaben durch den Song. Es wäre spannend zu beobachten, wie sie eine überspannte AfD-Diva wie Maximilian Krah auseinandernähme, diesen "frauenfeindlichen Camembert", wie Böhmermann sagen würde.
Am ehesten veranschaulicht Taby Pilgrim die eingangs zugesagte Dualität aus Raserei und Trübsinn im Song-Paar "Egal" und "Keine Angst Interlude". Erstgenannte Kollaboration mit Haxan peitscht mächtig voran. Im Wust aus blutfordernder Maschinerie und clowneskem Funhouse ertrinken ihre fein besaiteten Stimmbänder jedoch widerstandslos. Das Gegenteil gilt für das folgende Stück. Unterstützt mit Halleffekten steht nun ihr deutlich artikulierter Gesang im Fokus. Nur eine bescheidene Gitarre begleitet sie. Bei beiden Songs verbleibt jedoch selbst nach etlichen Durchläufen die Aussage im Dunkeln.
Kernstück des Albums dürfte "Nimmersatt" sein, in dem sie ihren Kampf gegen die eigene Psyche thematisiert. "Es knirscht im Geäst der Neuronen, es lebt, es knistert im Netz meiner Sicht", wispert sie aus den Abgründen ihres Bewusstseins, dessen Wahnsinn sie als Armee aus Gliederfüßern verbildlicht, "Es hat tausende Fühler und tausende Füße, es taumelt in meinem Gehörgang, es lauert und kauert". Die Nackenhaare stellen sich auf, wenn auch das Instrumental das endoparasitäre Krabbeln einfängt. Dagegen wäre der eher konventionelle Peat-Part im Grunde verzichtbar gewesen.
Mit dem Titellied legt sie kurz vor Schluss quasi die Unplugged-Version von "Nimmersatt" vor. Mit der musikalischen Leichtigkeit geht allerdings eine extremere Autoaggression einher: "Ramm' mir ein Essstäbchen in den Frontallappen. Will mir die Schädeldecke aufsägen." Im abschließenden "Down Down Outro" versiegt schließlich die Hoffnung. "Vielleicht spring' ich diesmal", erklärt sie resignativ, um wie einst Grim104 in seiner Hirsch-Hommage "Abel '19" das Werk abrupt enden zu lassen. Mit "Nest" ist Taby Pilgrim ein beeindruckendes Konzept-Album gelungen, das den Poetry-Slam-Rap weit hinter sich lässt.
4 Kommentare mit einer Antwort
Nicht exakt meins, aber direkt spannender als Marsi.
+1
Bin ihr früher auf Zwitscher gefolgt, ist eine lustige Person. Never forget den Escitalopram-Blister Adventskalender ♥
Mucke ist leider nicht meins.
… Wenn ich mit deiner Vorstellung nicht einig bin, darfst du mich ruhig beleidigen…
Macht irgendwie keinen Spaß wenn man es erlaubt bekommt
Bei Kalte Schulter stimmt wirklich alles. Technik, Delivery und die schiefen Vergleiche passen auch. Ein Album in dem Stil hätte Album des Jahres Charakter.
Der Rest ist auch gut, die kann definitiv was. Trotzdem sind 25 Minuten kein Album und das Konzept ist mit den 3,4 Tracks die da nicht wirklich dazu gehören weder Fisch noch Fleisch.
Ich träume da erstmal weiter von einem Battle-Projekt.