laut.de-Kritik

Verbalwatschen in Sepia.

Review von

Schön, wenn man gleich mit der ersten Zeilen auf dem Silbertablett serviert bekommt, worum es geht. "Es geht um Handbrüche und Brandbriefe", lässt Milli Dance zuvorkommend wissen, was auch so ahnte, wer mit der Diskografie von Waving The Guns zuvor in Berührung gekommen ist. "Und selbstverständlich Schoko-Amaranth-Müsli." Okay, damit war nicht zwingend zu rechnen. Aber ... ach, warum eigentlich nicht? Um "Kreativität tötenden Wesen in die Klöten zu treten", empfiehlt sich ja wohl der eine oder andere unerwartete Move.

Das Verblüffendste an "Am Käfig Rütteln" steckt aber nicht in der angedrohten Abhandlung über fancy Frühstücksflocken. (Die bleibt - Spoiler! - ohnehin aus.) Nö, am meisten überrascht, dass die mittlerweile zum Duo-plus gesundgeschrumpfte Crew diesmal mit einem derart stimmigen Soundbild aufwartet. Man könnte dieses Album auch problemlos genießen, verwendete man keinerlei Aufmerksamkeit auf die Lyrics.

Gut, das wäre einigermaßen dumm: Missachtung der Texte brächte eine*n um manche scharfsinnige Analyse und zahllose furios formulierte Beleidigungen. "Es ist immer noch Waving The Guns, du Arschloch!" Will meinen: Milli Dance rantet gegen alles und jede*n, der/die/das ihm gegen den Strich geht. Davon gibt es im Jahr 2022 mehr als genug, und immer wieder treffen seine Verbalwatschen mitten in die Fresse.

"Anscheinend bin ich links", spuckt die Selbstreflektion im "Rental Van" aus, "doch was ich über Politik weiß, weiß ich von den Ying Yang Twins." Ich wusste es, ich wusste es schon immer: Diese Typen können ganz offensichtlich nicht die schlechtesten Lehrmeister gewesen sein, so versiert, wie Milli Dance diffuses Unbehagen oder ausgewachsenen Unmut zu effektiven Punchlines umschmiedet.

"Wie sehr man Menschen hassen kann? Frag' nicht mich, frag' einen Neoliberalen." Manche drängen sich als Feindbilder traditionell geradezu auf: Impfgegner\*innen, Nazis, Sexisten, FDP-Wähler\*innen, Coldplay-Fans, piekfeine Yuppies und die Schnittmengen all dieser Gruppen, wir kennen die Soße. Noch mehr hadert Milli Dance mit der Kunstszene, und am härtesten geht er mit sich selbst ins Gericht.

"Lieber Überbringer schlechter Nachrichten als Markenbotschafter" möchte er sein, "keinem Vaterland zu Ehren und keinem Gott zum Gruße" agieren. Sich gegenüber der profitorientierten Produktionsmaschinerie von Playlisteneinheitsbrei abzugrenzen, erscheint erst einmal einfach. "Ich entferne mich von euch", driftet Milli in die dunklen Weiten von "Distanz" weg. "Sag' zum Abschied leise: nee." Den eigenen Platz im Kunstzirkus zu finden, fällt da schon ungleich schwerer, besonders wenn man auch diese Blase mit der gebotenen Skepsis beäugt: "Jede gammelige Clique ist jetzt ein Künstlerkollektiv."

Auf derlei Verklärung fallen Waving The Guns nicht herein, sie wissen: "Kunst ist immer ein egoistischer Akt." Weswegen Milli Dance das eigene Ego ständig neu auf den Prüfstand stellt: "Ich bin so lange Asket, bis der Heißhunger zehrt", zweifelt er in "Blase" die Stabilität der eigenen Prinzipien an. Dabei geht er noch weit über den kreativen Prozess hinaus: "Bin ich in zwei Jahren vielleicht auch bereit fürs Gewehr?" Unter dem Eindruck der aktuellen Meldungen aus der Ukraine wirkt diese Frage noch brisanter, genau wie die weiterführende Überlegung: "Mal sehen, wie sehr sich die geballte Faust an der Gewalt berauscht." Ja, wer kann das heute noch sicher sagen?

Es wäre in der Tat ziemlich dämlich, die Lyrics links liegen zu lassen. Dennoch, wie gesagt: "Am Käfig Rütteln" würde auch funktionieren, schaltete man textlich auf Durchzug. Ungewohnt viele Produzenten waren diesmal beteiligt: Neben Dub Dylan und Milli Dance selbst mischten Pete Gelée, Bryck, DJ Joaf, Kinojunge aus Berlin und Tombs Beats und DJ Flexscheibe aus dem Umfeld von Pöbel MC mit. Entsprechend vielfältig gestalten sich die musikalischen Einflüsse, die überall durchklingen: Ein Beat wirkt, als stolpere er in übergroßen Clownsschuhen durch die Manege, beim nächsten meint man, das Tumbleweed über die Prärie wehen zu sehen.

Wie aus der Zeit gefallen wirkende Scratches oder Videospiel-Sounds treffen auf dicke, wuchtige Bässe. Hier ein altehrwürdiges "Let me clear my throat"-Sample, da eins von Jan Delay (aus seinen besseren Tagen): Das Bizarrste an diesem Album ist, dass es bei all dieser Vielfalt wie aus einem Guss erscheint. Als liege ein Sepia-Filter über allem. Diese Platte beschert durchgehend das nostalgische Gefühl, als betrachte man gelbstichige alte Urlaubsfotos vom längst vergangenen Trip nach "Gran Canaria", oder, noch besser, die vergilbten Super-8-Aufnahmen, die stolze Väter (es waren immer die Väter!) in Zeiten, bevor es erschwingliche Videokameras gab, von ihrem Nachwuchs machten.

Alles passt sehr viel besser zusammen, als es, logisch betrachtet, eigentlich der Fall sein dürfte. Für den einzigen Feature-Gast Fatoni packen Waving The Guns auch noch einen schwülstigen Walzer aus, nur um sich gleich darauf in "Nina Simone" die Hook-Struktur von Run The Jewels zu borgen. Überhaupt die Hooks! Vielleicht liegt es daran, dass Milli Dance diesmal mehr Gesang oder zumindest Melodien zulässt als je zuvor: Beim ersten Hören gar nicht sooo catchy, schleichen sich die Hooks ins Ohr, um dort so rasant wie fies zu wachsen.

Den ersten Gedanken - 'Kein offensichtlicher Hit drauf!' - muss ich mit etwas zeitlichem Abstand jedenfalls gründlich revidieren. Vielleicht sticht da einfach kein Track heraus, weil das ... alles Hits sind? Live sollte das jedenfalls durchwegs exorbitant gut funktionieren, und niemand kann sagen, Milli Dance hätte das nicht vorausgesehen: "Hab' dir doch gesagt, dass ich die Hütte abreiß'."

Trackliste

  1. 1. Gran Canaria
  2. 2. Alles Egal, Alles Hassen
  3. 3. Heli
  4. 4. Besser Als Nichts
  5. 5. Rental Van
  6. 6. Lieblingsmilliardär
  7. 7. Gott Zum Gruße
  8. 8. Plädoyer
  9. 9. Coldplay & Nazis
  10. 10. Ich Weiß Nicht Recht
  11. 11. Kernkompetenz
  12. 12. Distanz
  13. 13. Blase
  14. 14. Siegelring
  15. 15. Man Tut, Was Man Kann feat. Fatoni
  16. 16. Nina Simone (W.T.G.)

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LAUT.DE-PORTRÄT Waving The Guns

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6 Kommentare mit 19 Antworten

  • Vor 2 Jahren

    Die Singles haben mich nicht abgeholt und Nina Simone finde ich weiter einen der schwächsten Songs. Als Album ist das aber sehr unterhaltsam. Der Unterhaltungsfaktor kommt allerdings fast zu 100% aus den Texten, während der Rest den Eindruck nicht schmälert. Gerade bei den Rapskills würde ich mir bisschen mehr Variabilität wünschen - hier wird weiter fast ausschließlich auf die 4 gereimt wie 2005. Die Beats sind zwar ok, aber wegen denen würde ich keinen der Songs anschmeissen, das ist etwas verschenktes Potential.

  • Vor 2 Jahren

    Heute gibts aber viele Watschn :(

  • Vor 2 Jahren

    Ich würde die gerne viel mehr mögen, als ich kann.

  • Vor 2 Jahren

    4/5 ist ein Scherz oder :D

    Als Coldplay-Fanboi aufgrund des Coldplay-Namedrops das ganze Album einmal gehört und es ist ungefähr so "gut" wie Mehnermoos. Von denen in einem Songtitel genannt zu werden, hätten nicht mal Bro'Sis oder Nu Pagadi verdient.
    Klingt wie angestaubter baggy pants Rucksackbattlerap anno 2004 oder anders formuliert: wie Genetikk, wenn die keine guten Beats und einen weniger versierten Rapper hätten und ich bin nicht mal sonderlich großer Fan von denen.
    Und wie sie in "Nina Simone" (das hat Nina Simone echt nicht verdient!) einen versuchen auf Run The Jewels zu machen (RTJ haben das auch nicht verdient!) ist so überwhack und zeigt eindrucksvoll, dass Deutsch vermutlich eher so eine mittelcoole Sprache sein dürfte :D
    Aber immerhin cooler Name wie der von einer 0815-Hardcorekapelle, wow!

    Mit jedem Tag danke ich Keemo und Frank mehr für das, was sie für Deutschrap getan haben und hoffentlich noch tun werden.

    • Vor 2 Jahren

      Lösch dich, genrefremder Schmutz!

    • Vor 2 Jahren

      Liebe Dich, Capsi!

    • Vor 2 Jahren

      Haha Capsi, da ich dich auch so gerne mag, denke ich darüber nach, ob ich das nicht vielleicht mache!
      Und da du schon von Schmutz redest, ich schiebe das Staubwischen immer so lange vor mir her und in meiner Wohnung müsste man mal wieder durschwischen, deswegen wäre es end nett, wenn du in einer deiner (vielleicht etwas weniger abgeranzten) baggys mal hier durchgehen könntest, xoxo.

    • Vor 2 Jahren

      Versteh dich da schon @Radiohead.
      Die Musik funktioniert für mich großteils über die Attitüde und die Texte bzw. über meine Sympathie zu diesen.
      Beat- und Raptechnisch ist das doch gerade so mittelmäßig.
      Warum man bei ein bisschen Kritik wie ein getriggerter 14-jähriger reagieren muss...

    • Vor 2 Jahren

      Warum? Weil wir auf laut.de sind! Ich habe hier ja auch schon mal so ähnlich reagiert :)
      Das, was du sagst, klingt sehr plausibel. Attitüde und klare Haltung haben die auf jeden Fall, das fand ich beim Hören auch am interessantesten.

    • Vor 2 Jahren

      Sehe es ähnlich, bzgl. Thematik/Wortwitz gibt's wenig zu meckern, aber flow-technisch erinnerts mich an Architekt und Konsorten, ergo schon recht angestaubt. Die Beat sind aber okay imo.

    • Vor 2 Jahren

      Vergleich mit Mehnermoos: genrefremd
      wack mit h schreiben: genrefremd
      "Rucksackbattlerap anno 2004": genrefremd
      Coldplay-Fanboi: Schmutz

      Also war mein Kommentar nur folgerichtig.

      (Bonus: "zeigt eindrucksvoll, dass Deutsch vermutlich eher so eine mittelcoole Sprache sein dürfte": ragism)

    • Vor 2 Jahren

      Capslöckchen, bei der Schreibweise von "wack/whack" hatte ich mich sogar extra an urbandictionary als Bibel gehalten und da sind auch beide Schreibweisen mit dieser Bedeutung zu finden und jetzt habe ich es trotzdem versäumt, bei einem offiziellen trve gatekeeper wie dir zu punkten :(
      Gehe gleich in den nächsten Titus-Store, um mein street cred-Konto aufzustocken!!
      Coldplay sind doch unhatebar und du hörst die immer beim Sport meintest du letztens?!
      Der Vergleich mit Mehnersmoos war qualitativ, nicht von Klang/Stilistik her. Aber dass ich im Deutschrap "genrefremd" bin, da kann ich dir sogar uneingeschränkt zustimmen, habe ich auch nie anders behauptet.

      Und auch wenn ich mit Ragi oft nicht einer Meinung bin, manchmal spricht er wahr.

    • Vor 2 Jahren

      "Und auch wenn ich mit Ragi oft nicht einer Meinung bin, manchmal spricht er wahr."

      Blindes Huhn säuft Korn, oder wie war das?

    • Vor 2 Jahren

      Radiohead9, wir sollten uns mal treffen, mich dünkt wir sind ähnlich alt und ähnlich sozialisiert. ;)

      #lautdeflirtportal

    • Vor 2 Jahren

      :D wo steckt der kleine Lappen denn nun? Hatte er doch so viel Angst vor mir dass er sich von laut zurückgezogen hat? :(
      jedenfalls Grüße an den lautuser! Weiß eh jeder und sein Vadder dass du hier noch jeden Tag checkst ob die Luft rein ist :D

    • Vor 2 Jahren

      Löscht euch endlich ALLE (außer Django und gueldi)

    • Vor 2 Jahren

      *und Dadboarder

  • Vor 2 Jahren

    Alles schön und gut, aber Daniiiii - WAS IS DENN JETZ MIT REVIEW ZU KAMP & MELLA!? =(

  • Vor 2 Jahren

    Macht Laune das Teil. Kein großer Fortschritt zum letzten Album aber weiter unterhaltsam und mir von allen Zeckenrappern definitiv am liebsten. Puncher sitzen und Flows und Beats sind funktional. Was den Gesang angeht, könnte er von mir aus ja noch mehr Richtung 2008er Favorite gehen :D