laut.de-Kritik

Wut und Leidenschaft dringen aus jeder Rille dieses Hardcore-Klassikers.

Review von

"Strugglin' in the streets just trying to survive / Searchin' for the truth is just keepin' us alive". Innerhalb von drei Minuten zerlegen 1986 vier hochtalentierte Punks von den Straßen New Yorks das gesamte Hardcore-Genre in alle blutigen Einzelteile – und setzen es mit unbändiger Wut, fast körperlicher Gewalt und genial gesetzten Metal-Einflüssen wieder neu zusammen.

Angetrieben von Harley Flanagans Basslinien und Mackies dynamischen, für Hardcore-Verhältnisse unerhörten Double-Bass-, Drums rotzt, rattert, bellt und jodelt Sänger John Joseph auf dem "We Gotta Know"-Opener im atemlosen Stakkato-Style, als wohnten Rob Halford, Ol' Dirty Bastard und Roger Miret als Männer-WG in seiner Brust. Gitarrist Parris Mitchel steuert kongenial metallisch-angehauchte Gitarrenriffs und am Ende gar ein fieses Slayer-Solo bei. Das "Age Of Quarrel" hatte begonnen – und Hardcore nach Black Flags "Damaged" und Minor Threats ersten 7-Inches seine dritte Blaupause.

Im Gegensatz zu Henry Rollins künstlerischem Ansatz und Ian Mackaye DIV-Philosophie sucht das Cro-Mags-Mastermind Harley Flanagan auf dem Band-Debüt sein Heil im Kampf. Im Kampf gegen die Polizei, gegen die Bandmitglieder, gegen Freunde, gegen alle – und gegen sich selbst. Während des Aufnahmeprozesses lebt der 15-Jährige trotz familiärer Bindungen zu Größen wie Andy Warhol, The Clash oder den Bad Brains teilweise auf der Straße und prügelt sich regelmäßig vor dem legendären CBs-Club. Der unaufhaltsame Nackenbrecher "Show No Mercy" mit dem brutalen Mosh-Part in der Mitte legt von dieser Zeit Zeugnis ab. "John schrieb den Großteil der Lyrics. Die erwähnten Situationen und Menschen gab es wirklich. Zeilen wie 'Show you no mercy at all / Gonna kick you when you're taking your fall' sind real", schreibt Harley in seiner Autobiographie "Hard-Core".

Die hyperschnellen Hardcore-Hymnen "Don't Tread On Me", "Street Justice" und "Survival Of The Streets" schlagen in die gleichen Kerbe. "Living inside enclosed walls / Got no money in my pockets / No pictures on the walls / Wake up with a gun on my head / That's the life, the life I've lead / What can I do? / Life's hard so / I gotta be hard too" ("Survival Of The Streets"). Die Kernaussagen des Albums lauten daher auch: Don't Fuck With Me. Leave me alone. Verkörperten Minor Threat die Hardcore-Attitüde des willensstarken, reinen Individualisten eher auf mentaler Ebene, so bringen Cro-Mags eine verzweifelte, archaische Männlichkeit in die Szene, die später von Bands wie Biohazard ad absurdum getrieben wird. Wenn ich keine Macht besitze in dieser beschissenen Welt, was bleibt mir noch? Meine innere und äußere Stärke – und die Musik.

"The Age Of Quarrel" ist auch deshalb so bahnbrechend, da Harley als erster und vollkommen natürlich Punk, Hardcore und Metal-Einflüsse kombiniert. Das Midtempo-Thrash-Monster "Seekers Of The Truth" hätte sich auch auf einem Metallica- oder Testament-Album der 80er behaupten können, während sich "Malfunction" tonnenschwer wie Black Sabbath über den Teer des Big Apple quält und Sänger John Jospeh sein dunkles Inneres nach außen kehrt: "I'm tryin' and I'm lyin' but I just can't get through to you."

Genre-Legende Vic Bondi definierte die Hardcore-Gründerzeit so: "Es ging bei uns um Dynamik, Leidenschaft, Wut, Intelligenz und Hoffnung." Das Debüt der Cro-Mags sprüht dank herausragender Musiker voller Dynamik; Wut und Leidenschaft dringen dank der Lebensumstände aus jeder Rille, und die Hoffnung findet sich zwischen den Zeilen.

John Joseph streut immer wieder erste Erkenntnisse aus seiner spirituellen Suche ein – nicht umsonst stammt der Albumtitel aus Bhagavad Gita und bereitet die Erde auf einem bevorstehenden Neuanfang vor. Und Harley zeigt neben der Gewalt auch erste Anzeichen von Selbstwahrnehmung und Reflektion. "Cro-Mag, Breakout, Now", shoutet die Band in "Hard Times". "I was a Skinhead and I knew it was time to break out of the life I was living", so Harley in seinem Buch.

Leider fehlt Harley die letzte der fünf Eigenschaften von Vic Bondi: die Intelligenz. Du kannst den Jungen von der Straße holen, aber nicht die Straße aus dem Jungen. Trotz aller musikalischer Genialität überfordert Harley die Rolle des Bandleaders emotional. Zeitlebens streitet er sich mit sämtlichen Bandmitgliedern, attackiert diese sogar mit einem Messer, landet immer wieder im Knast und schöpft niemals sein volles, kreatives Potenzial aus. Ohne Joseph gelingen ihm trotzdem mit dem fast speed-metalischen "Best Wishes"-Werk drei Jahre später und dem grenzenzerstörenden, fast Sludge Metal-lastigen Album "Alpha And Omega" noch zwei weitere starke Platten.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. We Gotta Know
  2. 2. World Peace
  3. 3. Show You No Mercy
  4. 4. Malfunction
  5. 5. Street Justice
  6. 6. Survival Of The Streets
  7. 7. Seekers Of The Truth
  8. 8. It's The Limit
  9. 9. Hard Times
  10. 10. By Myself
  11. 11. Don't Tread On Me
  12. 12. Face The Facts
  13. 13. Do Unto Others
  14. 14. Life Of My Own
  15. 15. Signs Of The Time

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